Die Entdeckung des Himmels
mehr geben würde. »Kann schon sein.«
Ada sah auf die Uhr. Sie wollte nach Hause, Onno wartete auf sie. Wie an dem Nachmittag in Den Haag fühlte sie sich in der überfüllten Kneipe fehl am Platz und kam sich vor wie auf den Porträts, die man auf dem Jahrmarkt von sich machen lassen konnte: aus einem aufgeklebten, lebensgroßen Bild der Königin mit Krone und Hermelinmantel war das Gesicht herausgeschnitten, und man mußte das eigene durch das Loch stecken. Tief in ihrem Innern spürte sie die Gegenwart von etwas anderem, nicht nur in ihrem Körper, sondern eher noch in dem Wesen, das sie war. Zugleich war sie es, wie Max gesagt hatte, und war es auch nicht, ihre Persönlichkeit enthielt einen Teil ihrer selbst als etwas anderes, das dennoch vollkommen sie selbst war, wie auf der Bühne, wo ihr Part einen Teil des unteilbaren Orchesterklangs ausmachte.
24
Die Hochzeit
Als Max die Einladung zur Hochzeit im Briefk asten fand, in der Onno Matthias Jacob Quist und Ada Brons ihre Eheschließung ankündigten – die Zustimmung der Eltern war nicht eingeholt worden, was vor allem in Den Haag schwer zu akzeptieren gewesen sein mußte –, war er bereits wesentlich gelassener. Der Stachel der Lüge war in sein Leben gedrungen und würde für immer in ihm steckenbleiben. Sein Leben war unwiderruflich entzweigebrochen: ein weißes Stück bis zu dem Abend an der Pelikanbucht, ein schwarzes Stück danach. Der Gedanke, daß ihm je so etwas passieren könnte, war ihm nie gekommen, und nun war es passiert, und zwar durch eigenes Zutun. Früher war er immer aufgewacht wie ein Trapezkünstler, der ins Netz fiel: Mit einem federnden Sprung stand er neben dem Bett und schaute in den Tag, der vor ihm lag – jetzt machte er ein Geräusch, als müsse er sich erbrechen, und wäre am liebsten unter der Decke liegengeblieben. Immer wieder lag unter dieser Decke auch eine Freundin, jedoch weniger oft als frü-her; diese Gefräßigkeit war schließlich die Ursache für alles gewesen. Der harmonische Dreiklang, den er mit Onno und Ada gebildet hatte, hatte sich endgültig in den dissonanten Akkord eines Komponisten der Darmstädter Schule verwandelt.
Onno fand es taktvoll von ihm, daß er als ehemaliger Freund von Ada nicht Trauzeuge sein wollte.
»Deine noble Verve wirft ein angenehmes Licht auf meine Fähigkeit, meine Freunde auszuwählen.«
Der Hochzeitstag, Max’ Geburtstag, kam mit einer wehmütigen Erinnerung an den Sommer: es war windstill, und die Sonne schien mild aus einem heiteren, blaßblauen Himmel. Ohne Mantel spazierte Max nachmittags zum Rathaus, das in der Altstadt im Rotlichtviertel an einer zweifelhaften Seitengracht versteckt lag, seit die Monarchie die republikanische Bürgerschaft aus ihrem stolzen Stadtpalast auf dem Dam vertrieben hatte. Einen erkennbaren Eingang gab es nicht; die obskure Backsteindurchfahrt zum Innenhof fanden nur Einheimische. Dort wurde der Fortbestand der niederländischen Bevölkerung in vollem Umfang gewährleistet: kommende und gehende Gesellschaften, schwarze Limousinen mit weißen Schleifen an den Seitenspiegeln, die zum Tor hinein und heraus fuhren, junge Mittelständler in geliehenen Jacketts, mit braunen Schuhen, zu weiten Hemdkragen und grauen Zylindern, die sonst nur von denen getragen wurden, die schon seit Generationen in Ascott zum Rennen fuhren, Bräute in Weiß, die manchmal von stolpernden Brautjungfern begleitet wurden und mit ihren Brautsträußen für den Fotografen posierten, während unter johlendem Gelächter eine Handvoll Konfetti über sie geworfen wurde. Überall standen Gruppen von Menschen zusammen, und nach einer schnellen Inspektion hatte er die Gruppe von Ada und Onno ausgemacht. Das heißt, es gab eigentlich zwei Gruppen. Die eine bestand überdeutlich aus Onnos Verwandtschaft, die Max zum ersten Mal sah: zehn oder zwölf vornehme Menschen, die Damen mit Hüten, Perlenketten und viel Grellrot und Marineblau mit weißen Noppen. Skeptisch amüsiert betrachteten sie das plebejische Amsterdamer Treiben. Einer der Männer war mit Sicherheit ein Bruder: so groß und schwer wie Onno, mit demselben Gesicht, aber alles gepflegter und angepaßter. Der viel kleinere, leicht gebeugte, dabei jedoch stämmige alte Herr mit Hut und Spazierstock, der neben ihm stand und jetzt eine Uhr aus der Westentasche zog und einen kurzen Blick darauf warf, war natürlich Onnos Vater; alle anderen hatten sich um ihn herum gruppiert. Onnos Mutter war eine imposante Erscheinung,
Weitere Kostenlose Bücher