Die Entdeckung des Himmels
müsse. Doch nein, für ihn war sicher etwas noch Gewichtigeres im Spiel: für ihn hatte das Kind zunächst einmal ein Quist zu sein, die Fortsetzung der Dynastie – aber in diesem Fall mußte es natürlich tatsächlich ein Quist sein, und nicht eigentlich ein Delius. Er selbst hatte solche Empfindungen nicht, doch es machte ihm keine große Mühe zu verstehen, welche Gründe das hatte.
Eine junge Kollegin, die sich mit Polarisation beschäftigte, aber eher wie eine Bademeisterin aussah, steckte den Kopf durch die Tür und sagte, es gäbe noch immer Probleme mit 3 C 296.
»Ich brüte auch darauf herum«, sagte Max und zeigte mit dem Radiergummi am Ende seines Bleistifts auf den Brief. »Was würdest du davon halten, wenn er aus zwei doppelten Radioquellen bestünde? Die kleine fällt dann vielleicht mit dem optischen Nebel zusammen. Denk an Centaurus A.«
Sie sah ihn einen Augenblick lang an, streckte dann einen Zeigefinger in die Höhe und verschwand. Es war das zweite Mal, daß er das einfach so dahergesagt hatte, aber jetzt wurde ihm klar, daß es vermutlich stimmte: auf den ersten Blick erklärte das alles. Vielleicht hatte er eine wichtige Entdeckung gemacht, der er sofort nachgehen mußte, bevor sie ihm jemand aus der Hand nahm – aber ihm stand der Kopf ganz und gar nicht nach Entdeckungen. Er nahm den Brief, zerriß ihn fünfmal, danach jede Hälfte noch einmal, und vermischte die Schnipsel schließlich sorgfältig mit dem anderen Abfall im Papierkorb.
23
Kopf oder Zahl
Sie spielte nicht für das Publikum, sondern für ihr Kind; der Klang aus dem Instrument zwischen ihren Beinen, dachte sie, mußte doch tief in ihren Leib dringen und das kleine Tierchen dort drinnen einhüllen in Schönheit. Nach dem letzten Takt des heroischen Finales, der tschechische Gastdirigent verharrte zusammengekrümmt, als hätte er plötzlich eine Kolik bekommen, hielt der Saal einen Augenblick den Atem an, doch dann brach ein Beifall mit Bravo-Rufen und Pfiff en der Begeisterung los, der den Dirigenten langsam aus seinem Krampf befreite; lachend und eine Hand mit der anderen schüttelnd, dankte er dem Orchester, wobei sich Adas und seine Blikke kurz trafen. Mit Schwung nahm er sein Tüchlein aus der Brusttasche, wischte sich umständlich die Stirn und wandte sich schließlich dem Publikum zu, sah einige Augenblicke lang triumphierend zum Balkon und kippte plötzlich wie von einem Genickschlag getroffen in eine lange Verbeugung. Der Saal erhob sich und jubelte ihm zu, als sei er selbst Franz Liszt, dessen ›Titelfigur‹ Mazeppa freilich unter den gegenwärtigen Umständen in Amsterdam mit derselben Zustimmung desselben Publikums unverzüglich von der Polizei als Unruhestifter festgenommen worden wäre. Ada klopfte leise mit dem Bogen auf das Cello und wartete, bis der Maestro sich umdrehte und die Musiker mit einer ausholenden Geste, den Taktstock in der einen Hand, das Taschentuch in der anderen, wie Marionetten aufstehen ließ. Als sie stand, ertappte sie sich dabei, daß sie nicht in den Saal schaute, sondern über die Köpfe hinweg und durch die Rückwand hindurch auf einen Punkt in unendlicher Entfernung.
Im Orchesterraum unter der Bühne verstaute sie ihr Instrument im Kasten; da am folgenden Vormittag wieder eine Probe angesetzt war, wollte sie es nicht mit nach Hause nehmen. Ihre Freundin, die Klarinettistin Marijke, fragte, ob sie noch mitkomme in die Kneipe. Eigentlich wäre sie lieber nach Hause gegangen, sie fühlte sich müde.
»Aber nur auf einen Sprung«, sagte sie deshalb, als Marijke sie drängte.
Max saß auf einem durchgesessenen Sofa aus rotem Plüsch in ebender Kneipe neben dem Gasofen und las Zeitung. Überrascht stand er auf.
»Ja, so ein Zufall!«
Ada war sich nicht ganz sicher, ob es wirklich so ein Zufall war. Max hatte wohl eher im Veranstaltungskalender nachgesehen, wann wieder ein Konzert des Orchesters stattfand. Er war noch immer braungebrannt. Sie küßten sich auf die Wange, Ada zog ihren nassen Mantel aus und setzte sich neben ihn, während Marijke von dem sich rasch füllenden Lokal verschluckt wurde.
Jetzt kam also das, was kommen mußte. Als Max erfuhr, daß sie als Zugabe Mazeppa gespielt hatten, sagte er, daß offenbar auch Prokofj ew bei diesem hochromantischen symphonischen Gedicht gut zugehört hatte, denn es erinnere ihn immer an die Passage aus Romeo und Julia, die er in Havanna auf der Straße gehört hatte, bei Michelangelos Erschaffung des Adam. In Adas
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