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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Kittel.
    »Nehmen Sie Platz«, sagte er. »Wir können uns kurz fassen. Ich wollte Sie gerne noch einmal alleine sprechen, ohne Ihre Schwiegermutter.« Er faltete seine großen Hände auf der Tischplatte und sah Onno durchdringend an, während er seine Worte offenbar sorgfältig abwog. »Gestern fragten Sie, wie riskant der Eingriff am kommenden Donnerstag sein würde.«
    »Und ich habe das so verstanden, daß es nicht so schlimm werden würde.«
    Melchior nickte und ließ wieder eine Stille entstehen, während er seine hellen, blauen Augen nicht von Onno abwandte.
    Verwundert erwiderte Onno seinen Blick und hatte plötzlich das Gefühl, daß eher diese Pausen die eigentliche Nachricht enthielten, als seine Worte.
    »In der Regel trifft das auch zu. Aber es können sich immer Komplikationen ergeben.«
    »Darüber sind wir uns im klaren«, sagte Onno. »Meine Schwiegermutter vielleicht noch am ehesten, weil sie in diesem Bereich gearbeitet hat. Ihr hätten Sie das nicht zu verschweigen brauchen.«
    »Das habe ich gehört.« Wieder baute Melchior eine Stille ein.
    »Aber Sie wissen ja, eine Mutter –.«
    Onno spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Hatte er ihn recht verstanden? War dieser Mann bereit, dem Ganzen ein Ende zu machen? Wenn er ihm jetzt sagen würde, ein unverhofft fataler Verlauf wäre letztendlich vielleicht für alle das beste, in erster Linie aber für Ada, soweit von irgendeiner Ada überhaupt noch die Rede sein konnte, würde am Donnerstag dann die erwünschte Komplikation auftreten?
    Irgendeine Blutung oder ein Herzstillstand mit Todesfolge?
    Donnerstag war der Tag, an dem das möglich war; geschah es nicht, war die Chance vertan, und ihr Körper würde noch Monate und vielleicht Jahre in dem Zustand dahinvegetieren, bevor er auf natürlichem Wege einen physiologischen Tod sterben würde. Es würde noch lange dauern, bis sich das in den christlich dominierten Niederlanden ändern würde, ohne daß jemand eine Gefängnisstrafe und den Entzug der ärztlichen Zulassung riskierte. Auch das war ein Grund, die Gesellschaft zu verändern. Er stand auf, ging ans Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu sehen. Würde er jetzt das Wort ›Euthanasie‹ in den Mund nehmen, würde Melchior dies gelassen von der Hand weisen, und die Operation würde reibungslos verlaufen. Wenn Ada während der Operation stürbe und ein Verdacht aufk äme, so daß Leute wie sein Schwager Coen ihn vor Gericht schleppen könnten aufgrund von Gesetzen, die Menno lehrte, dann könnte jeder unter Eid erklären, daß eine Beendigung des Lebens nicht zur Sprache gekommen sei. Der Richter würde sich seinen Teil denken, das Ergebnis wäre ein Freispruch, und der aufgeklärte Teil der Nation würde klatschen.
    Aber was sollte er tun? Er mußte jetzt, aus heiterem Himmel, über ihr Leben entscheiden. Unmöglich! Er fühlte die Verantwortung auf seinem Kreuz lasten wie der Kohleschlepper aus seiner Jugend den Sack Anthrazit. War ihr Leben überhaupt noch ihr Leben? Gab es noch ein Individuum, das Ada hieß und fünfzig Meter von hier entfernt auf einem Lammfell lag? Vorgestern hatte er den Neurologen gefragt, ob ihr EEG
    nun völlig flach sei, worauf dieser bestätigt hatte, daß es davon praktisch nicht zu unterscheiden sei. Aber er dachte auch an das Gespräch, das er vor einer Woche mit Max an Adas Bett geführt hatte, und daß jeder, trotz aller EEGs, intuitiv nur flüsternd gesprochen hatte.
    Er drehte sich um. Melchior blätterte in einem Stapel großer Karteikarten, die mit Klebeband zu einem provisorischen Heft zusammengebunden waren; er erweckte den Eindruck, als hätte er das Thema des Gesprächs bereits vergessen. Onno sah auf die Uhr.
    »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er. »Ich werde an der Pforte erwartet. Können wir diese Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen?«
    »Wie Sie möchten. Allerdings gibt es nicht viel fortzusetzen.«
    »Was ist denn mit dir los?« fragte Max. »Warum sagst du nichts?«
    Umgeben von unsicheren, grauhaarigen Fahrern, die ihr Auto nur sonntags gebrauchten, fuhren sie nach Leiden. Onno stöhnte und sah ihn an.
    »Kann ich dir vertrauen?«
    Max lachte unbehaglich.
    »Ist es denkbar, daß ich nein sage?«
    »Dann schwöre, daß du nie mit jemandem darüber sprechen wirst.«
    »Ich schwöre.«
    »Nicht mit meiner Schwiegermutter, nicht mit meinem Kind, und auch später mit sonst niemandem. Halte zwei Finger deiner rechten Hand hoch und sage es noch einmal.«
    Max nahm die Hand vom Steuer,

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