Die Entdeckung des Himmels
denen er nun schon einige Male auf seinem Weg begegnet war und die gerade aus dem aufständischen Paris zurückgekehrt zu sein schienen, wollten die Besetzer anführen –, blätterte er in den anästhesiologischen Handbüchern und betrachtete die Abbildungen der Geräte. Dann ließ er sich von einer unwirschen Dame mit hochgestecktem grauem Haar und einem Bleistift hinterm Ohr zeigen, wo die Literatur über Geburtshilfe stand. Als er sich in die Technik des Kaiserschnitts vertiefte und die Darstellungen des blutigen Bauchinneren betrachtete, aus dem die Neugeborenen aus feuchten, dunklen Tiefen und, soweit man sehen konnte, gegen ihren Willen herausbefördert wurden, traf ihn plötzlich die spiegelbildliche Übereinkunft des Chirurgenhandwerks und seines eigenen Berufs. So wie er, sozusagen von seinem Körper aus, seinen Blick in die Tiefe des Universums richtete, wo alles immer noch unbegreiflicher wurde, so wählten sie die entgegengesetzte Richtung und drangen in ebendiesen Körper ein, wo sie auf die entsprechenden Mysterien stießen: rätselhafte Neuronen und DNS-Moleküle, deren Wirkungsweise vielleicht ebenfalls durch Quantenprozesse bestimmt wurde. Daß die Abmessungen des menschlichen Körpers eine Art Mittelwert zwischen denen des Weltalls und jenen der kleinsten Teilchen war, paßte genau in dieses Bild.
Der Mensch war der Mittelpunkt der Welt, und das war kein theologisches Dogma: man konnte es messen.
Doch dann stieß er auf ein unerwartetes Problem. Der Kaiserschnitt, ein Routineeingriff von nicht mehr als einer halben Stunde, wurde meistens unter Vollnarkose, manchmal aber auch unter Teilnarkose durchgeführt; mit einer Lumbalinjektion in den Rücken wurde dabei nur die untere Körperhälfte betäubt. Das hieß: auch wenn die Geräte nicht eingeschaltet waren, konnte man daraus nichts schließen. Wenn die roten Gerätelämpchen nicht brannten, mußte er am Donnerstag innerhalb weniger Sekunden eine ganz bestimmte Injektionsspritze ausfindig machen zwischen Dutzenden anderer Spritzen, Scheren, Haken, Klammern, Zangen, Messern, und was sonst noch bereitliegen würde, um alles wunschgemäß ablaufen zu lassen. Und das war ausgeschlossen. Und es hatte ebensowenig Sinn, unter irgendeinem Vorwand herauszufinden, ob ein Anästhesist im OP war oder nicht. Einer war auf jeden Fall da; undenkbar, daß er einen Anruf bekommen würde mit der Nachricht, heute zu Hause zu bleiben, da der Patient sowieso nichts spüre. Blutdruck, Herztätigkeit, alles mußte kontrolliert werden, ob nun eine Anästhesie gemacht wurde oder nicht.
Mit einem Knall schloß Max das Buch, was ihm einen eisigen Blick der Bibliothekarin eintrug. Sie hatte natürlich schon längst über ihre Brille hinweg bemerkt, daß sich hier ein Laie mit den angelsächsischen Folianten in rotem und blauem Leinen abplagte. Mit Sicherheit kamen auch immer wieder Hypochonder in die Bibliothek, um ihre eingebildeten Krankheiten zu diagnostizieren. Er fühlte sich lächerlich, wie ein Hausarzt, der in der Observationszentrale von Dwingeloo mit einem Blick entscheiden zu können glaubte, ob der Spiegel zu Spionagezwecken benutzt wurde oder nicht. Ein zehnminütiges Gespräch mit einem Spezialisten der Universitätsklinik würde alles klären – aber wenn es schiefging und die Sache in die Presse käme, würde sich der Spezialist vielleicht bei Gericht melden und über diese merkwürdige Unterhaltung am Tag vor der verhängnisvollen Operation berichten, die die gesamten konservativen Niederlande in Aufruhr gebracht hatte.
Mord! Man würde ihn ausfindig machen, denn während eines Spazierganges mit ihrer Freundin durch den Botanischen Garten hatte die Bibliothekarin ihn einmal aus der Sternwarte kommen sehen, und Melchior würde im Gefängnis landen.
Ohne Gefahr für die Beteiligten konnte man sich in so kurzer Zeit nicht kundig machen. Es sei denn, er flöge sofort in ein anderes Land, nach Italien beispielsweise, gäbe sich in Rom als deutscher Schriftsteller aus, der an einer Kurzgeschichte über eine schwangere, im Koma liegende Frau arbeitete, die –.
Aber nein, sogar das wäre zu riskant. Ein derart spektakulärer Fall würde vielleicht sogar durch die Weltpresse gehen.
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Sectio caesarea
Onno und Sophia hatten es schon vorher gesehen, deshalb blieb, als sie am folgenden Nachmittag zu dritt in das Krankenzimmer traten, nur Max erschrocken auf der Schwelle stehen. Adas Haar war millimeterkurz. Sie sah aus wie die Mädchen und Frauen, die er in den
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