Die Entdeckung des Himmels
Natürlich sei er im Bilde über den ganzen Nonsens, den die Baconianer immer wieder behaupteten, zum Beispiel, daß das Werk Shakespeares eigentlich aus Bacons Feder stamme, aber er mache diesen Quatsch nicht mit, auch wenn diese Lesart durchaus achtbare Anhänger habe wie den alten Freud. Die Frage, weshalb so ein Unsinn ausgerechnet Bacon angedichtet worden sei, habe ihn immer gereizt. Und so habe er vor Jahren etwas Unerhörtes entdeckt. Er sah wieder zwischen Max und Onno hin und her. Ob sie schweigen könnten?
»Wie ein Grab«, sagte Onno und verschränkte die Arme.
Bacon habe an der Wiege von Vondels Lucifer gestanden.
Die Tragödie sei am 2. Februar 1654 in Amsterdam uraufgeführt worden. Vondel habe sechs Jahre daran gearbeitet, also habe er in Bacons tatsächlichem Sterbejahr damit angefangen.
Im Text habe er, Proctor, mittlerweile Hunderte von Beweisen für seine These gefunden, daß die Idee, ein Stück über Luzifers Untergang zu schreiben, von Bacon stamme. Der Sechsundachtzigjährige habe es auf seinem Sterbebett dem Sechzig-jährigen eingeflüstert.
»Haben Sie denn einen Beweis dafür«, fragte Onno, nachdem er einen kurzen Blick mit Max gewechselt hatte, »daß unser vaterländischer Dichterfürst 1647 in Stuttgart war?«
»Notwendigerweise. Es ist implizit durch meine anderen Beweise bewiesen.«
»Natürlich.«
»Ich finde ständig neue.«
»Nennen Sie einen.«
Die übliche Geheimschrift aus dem siebzehnten Jahrhundert, erzählte Proctor, numeriere die Buchstaben des Alphabets von 1 bis 24, wobei das I und das J dieselbe Zahl hätten, und das V und das W die Zahl 21. Die Summe von BACON
betrage dann folglich 33 und die von FRANCIS 67; zusammen 100. Wenn man nun Luzifers erste Passage nehme und das 33. Wort aufsuche, dann finde man: dieser. Das heiße also: »Dieser ist Bacon.« Oder: »Dies muß eigentlich Bacon zugeschrieben werden.« Zähle man dann weiter zum 100. Wort, so finde man: erlischt. Also: »Dieser erlischt. Francis Bacon stirbt.«
Es blieb kurz still, dann sagte Max zu Onno:
»Ich glaube, da wissen wir keine Antwort.«
»Darauf haben wir absolut keine Antwort. Aber«, fragte Onno behutsam weiter, »wenn Sie jetzt dieses Sterbebett in Stuttgart noch mit Quintens Fernrohr ins Visier bekommen wollen, heißt das dann, daß Sie sich Ihrer Sache, die mir persönlich äußerst plausibel vorkommt, doch nicht hundertprozentig sicher sind?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« sagte Proctor leicht beleidigt. »Ich würde nur hören wollen, warum Bacon ein Stück über den Untergang Luzifers geschrieben haben wollte. Das wird er Vondel doch gesagt haben. Was hatte er als Anglikaner mit einer Figur wie Luzifer zu tun? Vielleicht steht das in Zusammenhang mit den unsinnigen Legenden, die sich an seine Person geheftet haben, aber das finde ich auch noch heraus.«
»Sicher«, nickte Onno, »das ist unbedingt notwendig. Und warum suchte sich Bacon ausgerechnet Vondel aus?«
»Das spricht doch wohl für sich! Als Katholik hatte Vondel ein Verhältnis zu Teufeln und Engeln, einem Protestanten wie Gryphius brauchte Bacon damit nicht zu kommen. Vondel war in dem Moment der einzige große Bühnenautor, der für sein Projekt in Frage kam, außer vielleicht Corneille, aber am Pariser Theater konnte man sich damals nicht so phantastische Dinge erlauben wie in Amsterdam.«
»Warum phantastisch?« fragte Quinten.
»Na, hör mal«, sagte Proctor, »das hat es vorher in der Literatur noch nie gegeben: ein Stück, das sich von Anfang bis Ende im Himmel abspielt. Wenn das nicht phantastisch ist, dann weiß ich nicht, was sonst.«
»Was für einen schönen Ring Sie tragen«, sagte Quinten unvermittelt.
Proctor war ein wenig aus dem Konzept gebracht und sah auf seinen Ring.
»Das ist ein Saphir. Auch ein Symbol des Himmels.«
»Bestimmt sehr teuer.«
»Allerdings. Ein Stein von fünf Karat kostet fünftausend Gulden. Dieser wiegt ein Gramm.«
Nun beugte sich auch Max vor.
»Siehst du, daß der Stein genau deine Augenfarbe hat, Quinten?«
»Kommt ihr zu Tisch?« fragte Sophia. »Es gibt Pichelsteiner.«
Auch wenn Quinten nur die Hälfte begriff, so vergaß er diese Gespräche nie. Was er dagegen auf dem Gymnasium in Assen zu hören bekam, zu dem er ab September jeden Tag mit dem Bus fahren mußte, konnte er sich nur mit größter Mühe merken. Daß Gallia est omnis divisa in partes tres , wollte er wohl glauben, aber daß das in seinem Buch in Kleinbuchstaben und manchmal sogar kursiv
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