Die Entdeckung des Himmels
Quist, hier ist das Polizeipräsidium Amsterdam.
Über das Amt des Ministerpräsidenten haben wir Ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht. Es tut uns leid, aber Sie müssen sich auf eine schlimme Nachricht gefaßt machen.«
Onno spürte, wie er sich anspannte, und dachte sofort an Quinten.
»Sagen Sie, schnell, was ist passiert?«
»Es ist uns bekannt, daß Frau Helga Hartman Ihre Freundin ist.«
Es war, als schlügen die beiden Wörter Helga Hartman wie Kugeln in seinen Körper.
»Ja, und was ist mit ihr?«
»Ihr ist letzte Nacht etwas zugestoßen.«
Onno konnte plötzlich nicht mehr sprechen; sein Atem steckte ihm wie ein Kloß im Hals.
»Herr Quist? Sind Sie noch da?«
»Ist sie tot?« fragte er heiser.
»Ja, Herr Quist –«
War das möglich? Helga tot? Helga tot? Langsam weiteten sich seine Augen, es war, als liefe er leer, Richtung Amsterdam, wo ihr toter Körper sein mußte.
»Wirklich ganz tot?« fragte er und hörte sofort das Idiotische dieser Frage.
»Ja, Herr Quist.«
»Gott verdamm mich!« schrie er. »Wie ist das in Gottes Namen passiert?«
»Sind Sie sicher, daß Sie das am Telefon –«
»Sagen Sie es mir bitte! Sofort!«
Sie sei spät in der Nacht überfallen worden, als sie die Eingangstür zu ihrer Wohnung aufgesperrt habe. Sie sei hineingeschleppt und im Flur erbarmungslos mit einem Messer traktiert worden, vermutlich von einem Fixer; nachdem ihre Wohnung durchsucht worden sei, habe man sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Vom Täter keine Spur. Da auch ihre Stimmbänder verletzt worden seien, habe sie nicht um Hilfe rufen können, es sei ihr jedoch gelungen, die Tür wieder zu öffnen und trotz des Blutverlusts zu einer Telefonzelle auf der anderen Seite des Kais zu kriechen, sie habe in der Hand Kleingeld gehabt, trotz der ausgeräumten Tasche. Offenbar habe sie den Notruf wählen wollen, und wenn sofort Hilfe gekommen wäre, hätte sie vermutlich überlebt, aber das Telefon sei zerstört gewesen. Wahrscheinlich erst eine Stunde danach, gegen Morgen, sei sie von einem Passanten gefunden worden; zu diesem Zeitpunkt sei sie jedoch bereits verblutet gewesen. Sie liege jetzt im Leichenschauhaus des Wilhelmina Gasthuis aufgebahrt.
Onno verließ die Kirche durch eine Seitentür. Vor dem geschlossenen Kirchenportal hatte sich inzwischen eine kleine Menschenmenge gebildet, aber er nahm nichts wirklich wahr; ohne zu sehen, wo er ging, irrte er an der schmalen Gracht entlang in die Stadt.
Helga war tot. Er spürte eine Wüste in sich. Am liebsten hätte er geweint, aber er war wie ausgedorrt. Sinnlos abgeschlachtet hatten sie sie. Es gab sie nicht mehr, in einem Amsterdamer Keller lag ihr verstümmelter Leichnam unter einem Laken, und in diesem Augenblick gab sich ihr Mörder vielleicht schon wieder der Heroinseligkeit hin. Vielleicht würde er ihn einmal auf der Straße sehen, wie er in einem Mülleimer stöberte – der Gedanke war so schrecklich, daß Onno daran zweifelte, ob er sich je wieder auf die Straße wagen könne. Er mußte weg, aus den Niederlanden verschwinden. Erst Ada, jetzt Helga. Alles war bis auf den Grund zerstört. Hatte er sie geliebt? Er hatte nie recht verstanden, was andere Leute meinten, wenn sie sagten, daß sie jemanden liebten, aber auf jeden Fall war Helga ein Teil seiner selbst, und dieser Teil war nun tot. Warum wurden Süchtige nicht aufgrund des Gesetzes für Geistesgestörte von der Straße geholt? Vielleicht würde der Mann ja noch gefaßt, aber was war mit den Vandalen, die die Telefonzelle zerstört hatten? Wenn das Telefon intakt gewesen wäre, würde Helga noch leben. Aber Telefonmarder wurden nie gefaßt, und sie wurden auch nicht gesucht. Wenn sie zufällig auf frischer Tat ertappt wurden, ließ man sie eine halbe Stunde später mit einer Verwarnung wieder laufen. Raub und Mord wurden von der Polizei bekämpft, aber gegen Vandalismus konnte offenbar nur despotische Gewalt etwas ausrichten, oder Gott im Himmel, an den hier keiner mehr glaubte.
Auch er, Onno, glaubte nicht daran, aber wer noch an ihn glaubte, für wen seine Gebote noch Gültigkeit hatten, der zerstörte keine öffentlichen Telefonzellen aus Lust an der Gewalt. Helga war tot. War die Lüge notwendig, weil als Alternative nur noch die despotische Gewalt blieb? In Moskau wurden keine Telefonzellen zerstört, ebensowenig wie in Mekka.
Gab es keine andere Wahl als die zwischen Betrug und Despotie? In einer Welt, in der die Dinge so standen, wollte er nicht mehr mitmachen. Oder
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