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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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stand die Wahl zwischen einer Theokratie und einer weltlichen Tyrannei? Konnte die Gesellschaft nur auf der Basis von Angst vernünftig funktionieren? Sollte der Mensch von oben einen Polizisten eingebaut bekommen? War er von der Veranlagung her schlecht, und wurde er nur gut unter schlechten Bedingungen? Sollten seine Lebensbedingungen also aus humanen Überlegungen heraus verschlechtert werden? War Rousseau der größte Idiot aller Zeiten? In Holland waren die Menschen nie so human gewesen wie im Winter 1944/45, als Tausende vor Hunger starben und rundherum die Schüsse der Exekutionskommandos krachten. Es war hoffnungslos. Helga war tot. Seine Kollegen in der Kirche, seine ehemaligen Kollegen, sollten sehen, wie sie zurechtkämen mit ihrer Toleranz, da sie sich nicht entschieden, bekamen sie es mit anarchischen Verhältnissen zu tun. Fidel hatte seinen eigenen Entwurf, und das Ideal des Neuen Menschen war sein Gott mit Che als seinem gekreuzigten Sohn – Onno gab seinen Segen dazu, aber zugleich war jetzt Schluß damit. Er stieg aus. Helga war tot. Nie mehr Politik, nie mehr eine Freundin, vielleicht nur noch den Diskos von Phaistos. Er wollte nichts mehr. Er war gescheitert. Was war das für ein Tag! Er sah sich um, sah die biederen, herausgeputzten Giebel. Vermutlich war Helga nie in Enkhuizen gewesen, aber jetzt war sie nicht in der gleichen Weise nicht da, wie sie früher nicht dagewesen war: ihr Tod hatte ein anderes, bleibendes NICHT in die Welt gepflanzt. Und in ihn. Alles vorbei, Vergangenheit. Sein Entschluß war gefaßt: Er würde verschwinden. In anderen zivilisierten Ländern war es um keinen Deut besser als hier, aber dort zumindest kannte ihn niemand, und er wollte von nun an niemanden mehr kennen – nicht einmal Quinten. Er war ein Fremder geworden, für jeden, und für sich selbst an erster Stelle. Er blieb keinen Tag länger in den Niederlanden als nötig.

45
Veränderungen
    Das letzte Mal, als Max, Sophia und Quinten ihn sahen, war auf Helgas Beerdigung, zu der auch Politiker und Journalisten erschienen. Die Presse hatte ihn nachsichtig behandelt; es war der Eindruck entstanden, als habe er wegen des Todes seiner Freundin vom Ministeramt Abstand genommen. Die Politiker hielten es für das beste, es bei dieser Sprachregelung zu belassen. Er hatte einen matten, niedergeschlagenen Eindruck gemacht, ja, aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß er vorhatte, alles aufzugeben. Eine Woche später bekamen Max, Sophia und Quinten jeweils einen handgeschriebenen, in Amsterdam eingeworfenen Brief, den sie gleichzeitig auf dem Balkon am Frühstückstisch lasen.

    Lieber Max ,
wir werden uns vermutlich nicht wiedersehen. Ich gehe weg und komme nicht wieder. Ich bin über den Rand gestoßen worden.
    Hoffentlich verstehst Du das auch ohne Erklärung, denn ich kann es nicht erklären. Ich weiß nur ganz sicher, daß ich mich unsichtbar machen muß, sozusagen wie ein sterbender Elefant.
    Der, der ich war, den gibt es nicht mehr, und alles, was in meinem Leben noch passieren wird, ist eigentlich schon postum. Ich brauche Dir nicht zu erzählen, daß es Menschen gibt, die ungleich Schlimmeres durchgemacht haben und trotzdem nicht so reagieren wie ich, aber das sind eben auch andere Menschen.
    Und es gibt Menschen, die sich aus viel nichtigerem Anlaß gleich aufh ängen. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, was ich will, nämlich nichts mehr zu wollen, aber ich muß es auf jeden Fall versuchen. Ich möchte nur noch einige Dinge zu Ende denken.
    Daß ich mich auch von denjenigen löse, die mir die liebsten sind, wie von Dir und von Quinten natürlich und von meiner jüngsten Schwester, statt engeren Kontakt mit Euch zu suchen, das ist mir ein Rätsel, aber welchen Standpunkt kann ein Mensch einnehmen, um das Rätsel zu lösen, das er selbst ist? Vielleicht habe ich mich immer schon allem entziehen wollen.
    Zwischen Adas Unfall und dem Mord an Helga liegt meine politische Laufb ahn, die nun ebenfalls beendet ist. Mein Leben ist ohne Deines nicht denkbar, bis zur vergangenen Woche hast Du es in weit höherem Maße bestimmt, als Du selbst ahnst. Es ist mir klar, daß das mysteriös klingt, aber belassen wir es dabei.
    So viel wir auch geredet haben, vor allem in den ersten Monaten, das Wesentliche ist immer verschwiegen worden. Was war das zwischen uns, Max? Gilgamesch und Enkidu? Weißt du noch? Der ›Mentopagus‹? Ich habe nichts vergessen und werde auch nichts vergessen, die Erinnerung an unsere Freundschaft

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