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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einzige, dem er den Triumph über seinen Sturz nicht gönnte, war sein pensionierter ältester Bruder, sein Vater brauchte das zum Glück nicht mehr zu erleben.
    Und was Helga betraf: Sie würde vermutlich nur froh sein, daß es so gelaufen war.

    Die wenigen Leute, die die Schiffsausflügler an diesem Sonntagnachmittag in Enkhuizen durch die stillen alten Straßen vom Yachthafen zur Kirche gehen sahen, blieben stehen und waren sich ganz sicher, daß sie träumten, denn da ging nicht nur der Ministerpräsident, sondern das ganze Kabinett, und das war ausgeschlossen, denn diese Gesichter gehörten ins Fernsehen und nicht in ihre kleine Stadt. Wenn es tatsächlich stimmte, daß sich die gesamte Machtelite jetzt in Enkhuizen befand, lief vermutlich irgend etwas aus dem Ruder.
    Auch der Bürgermeister und die örtliche Polizei wußten von nichts, nur der Pastor und der Küster hießen sie willkommen. Kichernd wie eine Schulklasse verteilten sich die Besucher auf die Holzbänke im Mittelschiff. Um sich die Beine zu vertreten, waren auch Koos, Dorus und Piet mitgekommen, aber sie zogen sich sofort in ein Seitenschiff zurück, wo sie ihre Beratungen unter einem Gemälde des heiligen Sebastian fortsetzten. Die Kirche duftete noch nach dem Weihrauch der Frühmesse. Der Minister, der an Bord ständig »Gerade soll er gehen!« gerufen hatte, stieg plötzlich auf die Treppe zur Kanzel, zweifellos, um eine reformierte Donnerpredigt zu halten, wurde aber rechtzeitig durch seinen Staatssekretär davor bewahrt. Der sozialdemokratische Parteivorsitzende, der ursprünglich protestantischer Theologe gewesen war, hatte sich unsichtbar gemacht, und kurz darauf dröhnte von der Empore Bachs ebenso unsichtbare Variation zum Choral Vom Himmel hoch da komm’ ich her aus den reglosen Pfeifen auf sie herab.
    Onno drehte sich kurz um, die Orgelfront erinnerte ihn an das aufgesperrte Maul eines Wals, der ihn rücklings angriff. Er fühlte sich absolut fehl am Platz, sowohl in dieser katholischen Kirche als auch in dieser Gesellschaft. Peinlich berührt, dachte er an seine aufgeblasenen Worte, die Generäle Aufstellung nehmen zu lassen und ihnen zu drohen – daran würde man ihn sicher irgendwann einmal spaßeshalber erinnern. Er spürte eine gewisse Erstarrung in seinem Körper, sah zum Kruzifix über dem Altar hinauf und lauschte der Musik.
    Borks Bemerkung damals mochte zwar den Ausschlag dafür gegeben haben, in die Politik zu gehen, aber es war nicht der wirkliche Beweggrund: das war sein Mißerfolg mit dem Diskos von Phaistos. Sollte er nicht versuchen, zu den Schriftzeichen zurückzukehren, da sich offenbar ein Kreis geschlossen hatte? Vor vier Jahren hatte er sich noch entscheiden können, aus der Parlamentsarbeit zu flüchten oder eben nicht, aber jetzt war alles endgültig. Vielleicht hatte es mit Bachs Musik zu tun, aber plötzlich zog ihn genau das an. Er würde sich wieder völlig neu einarbeiten müssen, auch in die Fachliteratur, die er in diesen vierzehn Jahren nicht mehr verfolgt hatte; das einzige, was er sicher wußte, war, daß die Entzifferung des Diskos immer noch niemandem gelungen war, auch nicht Landau, seinem israelischen Konkurrenten, denn der hätte sich das Vergnügen bestimmt nicht entgehen lassen, ihm dies höchstpersönlich mitzuteilen. Onno seufzte. Wer weiß, vielleicht waren all die Jahre nötig gewesen, um tief in seinem Innern die Lösung heranreifen zu lassen: Vielleicht kam ihm jetzt innerhalb kürzester Zeit der erlösende Einfall!
    Der Küster kam aus der Sakristei und fragte einen der in der vordersten Reihe Sitzenden etwas, der sich daraufh in umsah und auf ihn zeigte. Fragend hob Onno den Kopf, woraufhin der Küster mit der Hand eine drehende Bewegung neben dem Ohr machte. Verwundert erhob sich Onno, während ihm zwei Dinge zugleich durch den Kopf gingen: Wie konnte überhaupt jemand wissen, daß er hier war, und wie war es möglich, daß die Geste für »Telefon« immer noch dem Mechanismus eines Apparates entsprach, den es seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gab und der nur noch in Filmen mit Stan Laurel und Oliver Hardy zu sehen war?
    Der Küster führte ihn in die Sakristei. Das Telefon stand auf einem Tisch mit einer dunkelroten Tischdecke; in einem Wandschrank mit aufgeschobenen Türen hingen Meßgewänder, die wie die Garderobe eines römischen Kaisers wirkten.
    Onno nahm der Hörer.
    »Quist.«
    »Sind Sie Herr Onno Quist?« fragte eine Frauenstimme.
    »Ja, mit wem spreche ich?«
    »Herr

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