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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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die Augen. Da die Helligkeit ihn störte, stand er schwankend auf, machte das Licht aus und ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen.
    War es möglich, daß es die mathematischen Grundlagen dazu schon gab? Als Einstein eine nichteuklidsche, vierdimensionale Geometrie für seine gekrümmte Raum-Zeit brauchte, stellte sich heraus, daß sie bereits vor Jahrzehnten von Gauß und Riemann entwickelt worden war. Wenn die Welt in erster und letzter Instanz realisierte Unendlichkeit war, konnte er vielleicht Cantor zu Rate ziehen, den Begründer der Mengenlehre. Cantor! Der Sänger! Als Student hatte er sich eine Zeitlang mit dessen schockierender Theorie der transfiniten Kardinalzahlen beschäftigt, der unendlichen Zahl aus vollendet unendlichen Zahlen, aber das war lange her. Er erinnerte sich an das Schwindelgefühl, das ihn bei seinem Besuch in der schauerlichen orphischen Schola Cantorum ergriffen hatte: seine Alephs, Aleph-0, Aleph–1, sein Absolut Unendliches. Er mußte sich sofort wieder damit beschäftigen, zugleich aber mächtig aufpassen, denn Cantor war darüber wahnsinnig geworden. Da er sich für den Mann, der sich in solche Regionen gewagt hatte, brennend interessierte, hatte er eine Biographie über ihn gelesen, an die er sich besser erinnern konnte als an seine Theorie. Cantor war regelmäßig in eine Anstalt eingeliefert worden und hatte ursprünglich Musiker werden wollen, Geiger, aber Gott selbst, ließ er verlauten, habe ihn gerufen und ihm seine Lehre offenbart. Wie für Pythagoras war die Mathematik für ihn zugleich Metaphysik: alle Zahlen waren Dinge. Er war paranoid und litt an schweren Depressionen, interessierte sich für die Theosophie, die Freimaurerei und die Lehre der Rosenkreuzer, schrieb ein Pamphlet, in dem er nachwies, daß Christus der natürliche Sohn Josefs von Arimatäa war, hielt Vorlesungen über Bacon und bewies ›unwiderlegbar‹, daß der und niemand anderer es gewesen sei, der die Stücke Shakespeares geschrieben habe.
    Max hatte die Augen im Dunkeln nun weit geöffnet. Immer wieder setzte er das leere Glas mechanisch an den Mund und stellte es wieder ab; es schien, als nähmen die Alkoholnebel in der Dunkelheit ab, aber zugleich wußte er, daß das nicht stimmte. Er sah plötzlich eine enervierende Zeichnung aus einer noch ferneren Vergangenheit vor sich und erinnerte sich sofort, woher sie stammte: aus der Übersetzung eines populären Buches von Gamow, One, Two, Three … Infinity , das er mit siebzehn Jahren gelesen hatte und das an seinem Entschluß, Astronom zu werden, nicht ganz unschuldig war. Gamow, so hatte er später gelernt, war der erste gewesen, der die Theorie des Big Bang wissenschaftlich akzeptabel gemacht und 1948 dessen Echo vorhergesagt hatte. Die kosmische Hintergrundstrahlung, die 1964 gemessen wurde, hatte diese Theorie definitiv bestätigt. Eine Zeichnung dieses Gamow zeigte die topologische Verformung eines Mannes, der auf der Erde wandelte und den Sternenhimmel bewunderte: alles war von innen nach außen gestülpt. Die Organe, die normalerweise in einem vom Universum umgebenen Körper eingeschlossen waren – mit lediglich einem Durchgang vom Mund über den Magen-Darm-Trakt zum After –, waren bei Gamow nach außen gestülpt: Eingeweide erstreckten sich als Ausgeweide ins Unendliche, während das All mit seinen Planeten und Sternen und Spiralnebeln zum Inneren des Mannes geworden war, in dem er selbst noch immer mit dem nach innen gekehrten Äußeren auf der Erde wandelte und es mit staunenden Augen bewunderte. Wer war dieser verflixte Mann? Er, Max, wie er durch den Erscheinungspunkt in die negative Raum-Zeit auf der anderen Seite des Big Bang schaute? Gott? Oder vielleicht eine Frau? War es Ada mit dem Geschwür in ihrem Bauch, das Quintens Platz eingenommen hatte? Oder seine eigene Mutter, mit ihm in ihrem Bauch? Die Mutter des Universums – Ada und Eva – Frauen – nur Frauen Er hatte wieder geschlafen. Als er aufwachte, fühlte er sich müde und glücklich. Er war nun über fünfzig und beschäftigte sich immer noch mit denselben Dingen, für die er sich schon als Siebzehnjähriger interessiert hatte. War in seinem Leben so wenig passiert? Falsche Frage. Es gab keinen Bruch wie bei Onno, und der Junge, der er gewesen war, brauchte sich des erwachsenen Max nicht zu schämen. Er stand auf und dachte wieder an das Kind, das Tsjallingtsje von ihm wollte. Natürlich: Octavia! Diese Nacht würde er sie wohl kaum zeugen, dazu war er erstens zu

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