Die Entdeckung des Lichts
die Schwabinger Landstraße. Bevor sie ein drittes Mal in die Schwabinger Landstraße bogen, besuchten sie die Herzogstraße, die Wilhelm- und die Hermannstraße. Überall gab viel Musik und Feuerwerk der Festfreude angemessenen Ausdruck. Besonders effektvoll kam die Beleuchtung durch das in uneigennützigster Weise vom Kunstgärtner Hörmann herrlich dekorierte Magistratsgebäude zur Geltung.
Der Korso fand hier sein Ende. Die Bürgermeister von Widenmayer und von Borscht mussten sich aus Zeitgründen leider verabschieden. Alle anderen füllten die Festsäle der Salvatorbrauerei Ludwig Petuels, wo der in ganz Schwabing als tanzender Hund verschriene Unternehmer und Werbetexter Caspar Ostermaier auf die Gesellschaft toastirte, das Fräulein Nägerl den Weihegruß auf Verlangen wiederholte und dafür ausgiebig beklatscht wurde, noch einige Reden in die Luft gingen und alle zusammen bis in den Morgen feierten, an dem Albert früh erwachte.
Zuverlässig und souverän war die Zeit vergangen.
Es dauerte bis zum 14. Oktober, bis in Schwabing das Steigenlassen von Papierdrachen und Ballons auf Straßen und Plätzen, an denen Drahtleitungen der elektrischen Beleuchtung standen, untersagt wurde. Im Juli erinnerte die Gemeindezeitung unter Betonung der Strafeinschreitung bei Nichtbeachtung noch einmal daran. Auch am Tage stand daher der Himmel, der das Asyl unseres Unwissens ist, nicht mehr offen.
V
Die Geküssten
1 Die Jahre danach
Als er das erste Mal von William Thompson hörte, lebte Albert Einstein schon lange nicht mehr in München. Er hatte sich von der autoritären Schule, an der er dem Lehrer durch bloße Anwesenheit den Respekt verdarb, verabschiedet, nicht ohne ein ärztliches Attest auf »die Nerven« in der Tasche: neurasthenische Erschöpfung.
Unangemeldet bei den Eltern in Mailand aufgetaucht, verbummelte er ein Jahr, bevor er die Aufnahmeprüfung am Polytechnikum in Zürich machte und wegen seines schlechten Wortgedächtnisses in Fächern wie Französisch und Botanik durchfiel. Dann wurde er Untermieter bei der Familie Winteler in Aarau, um an der dortigen Schule den Abschluss nachzuholen. Unentwegt flirtete er mit Marie, der Tochter des Hauses, unentwegt und nebenbei. Hauptsächlich war er auf der Suche nach der Lösung seines Kinderrätsels vom schnurgeraden Lichtstrahl und der Kugelwelle. Er wusste längst, wer Michael Faraday war und dass ein Spalt im Fensterladen sehr groß war im Vergleich zur Wellenlänge des Lichtes. Er hatte gesehen, dass schnelle, kurze Wasserwellen kaum um ein Hindernis herumliefen, wenn es groß genug war, und dass sie sehr wohl um die Ecke kamen, wenn das Hindernis klein war.
Ein Haar besaß so wenig einen geometrischen Schatten wie ein Spalt, der so schmal war wie ein Haar breit. Beide erzeugten Muster. Um wie viel schöner das Licht wurde, je mehr man sich mit ihm beschäftigte! Der gerade Schatten war erst der Anfang dessen, was die Welle konnte.
William Thompson hieß zu diesem Zeitpunkt für alle Lord Kelvin, nach dem Fluss Glasgows, aber das tat nichts zur Sache. Noch als William Thompson hatte er einen Brief von dem jungen, exzentrischen, schottischen Mathematiker James Clerk Maxwell erhalten, den seine Klassenkameraden in Edinburgh »den Doofen« genannt hatten und der fand, »dass nichts heilig und mit rigidem Glauben belegt sein darf, ob positiv oder negativ«.
Maxwell war jetzt Student in Cambridge und bat Thompson um eine Liste unvoreingenommener Darstellungen der elektrischen Wissenschaft: »Möglichst Arbeiten ohne Fixierung auf diese alten Traditionen von Kräften, die in der Distanz wirken.«
Seit Faraday mit Sarah in der Küche gesessen und fertig zu sein geglaubt hatte, waren zehn Jahre vergangen, keine leisen, vergessenen Jahre. Begonnen hatten sie damit, dass »die Iren mal wieder mit dem Verhungern angefangen haben«, wie auf dem Piccadilly ein Mann meinte, an dem Sarah mit einigen Einkäufen am Morgen nach der Entdeckung des Faraday-Effektes vorbeiging. Das war nichts Ungewöhnliches. Im Verlauf des Winters stellte sich aber ein neues, ungekanntes Maß an Hunger ein, das die Braunfäule schaffte: ein Pilz, der offenbar aus dem Nichts gekommen war. Unter den Kartoffeln, von denen eine seit Jahrhundertbeginn auf acht Millionen verdoppelte Bevölkerung fast ausschließlich lebte, fühlte er sich besonders wohl. Der Pilz breitete sich schneller als die Nachrichten über ihn aus, um vom Wissen um seine bevorzugten Kartoffelsorten in der von ihm
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