Die Entdeckung des Lichts
die Namen Montag vom ersten Fockmast bis Samstag, dem letzten Besanmast. Niemand wusste, wie man ein solches Schiff zu Wasser ließ.
Aus Amerika sickerten Gerüchte, man habe ein Mittel zur Narkose gefunden. »Narkose?«, fragten viele Londoner entsetzt, weil sie das Wort noch nie gehört hatten und eine neue Munitionsart befürchteten, bevor sie hörten, es sei »zur Betäubung«. Das Mittel hieß Äther, was nur selten zu Verwechslungen führte. Lachgas hatte bei einem Zahnarzt in Amerika angeblich versagt, es führte sein Leben auf den Jahrmärkten der Welt.
John Snow, Sohn eines zu Eigentum gekommenen Bergarbeiters, ehemaliger Apothekerlehrling und jetzt Arzt, entwickelte rasch verbesserte Verfahren zur Dosierung des Äthers, die bei Operationen und Zahnärzten Anwendung fanden. Snow vermutete auch, die Wasserspülungen hingen mit der Cholera zusammen, aber genauso gut hätte er von Wellen mit oder ohne Äther reden können, ob nun als Betäubung oder als Träger des Lichts, von Linien, sozusagen schwingenden Fäden, die man nicht sah, die man nicht anfassen konnte, die nichts wogen, die aber doch alles zusammenhielten, was man sehen und anfassen konnte: die Erde, die Königin, London und den Mond. Einfach alles.
Faraday saß im Keller und hatte den Kopf aufgestützt. Er wusste nicht, wie spät es war, als die Tür aufflog, und hätte man ihn nach dem Jahr gefragt, er hätte überlegen müssen und warten, bis sich zufällig etwas regte in seinem Kopf. Er erschreckte sich jedenfalls zu Tode, wenn er sich nicht irrte.
Anderson stand vor ihm und schnappte schweißüberströmt nach Luft, als ob er von der Akademie in Woolwich herübergespurtet wäre. Begrenzt amüsiert fragte Faraday: »Was denn?«
»Ein Franzose«, gab Anderson zurück und holte ein Papier aus der quer über seiner Brust hängenden Tasche, um sich zwischen den Atemzügen zu wiederholen: »Ein Franzose.«
Das Jahr war 1850, so viel wusste Faraday plötzlich, eine zu glatte Zahl für Entscheidungen, fand er, als es angebrochen war: Man war gleichermaßen nicht bei 1800 wie nicht bei 1900. Er streckte die Hand aus, und Anderson reichte ihm die Arbeit.
»Hat die Lichtgeschwindigkeit in Wasser gemessen.«
Faraday hörte gut zu, während er den Namen Foucault las, Jean Bernard Léon Foucault, und nicht vermeiden konnte zu denken: Diese Franzosen immer mit ihren Vornamen.
Er sah Anderson erwartungsvoll an, der endlich etwas sagen sollte, zum Teufel. Er sollte nicht so großspurig tun.
Endlich sagte er: »Langsamer.«
Und als Faraday nichts entgegnete: »Ich hab es aus der Royal Society .«
Newtons Lichtteilchen war tot.
»Mehr bedeutet es nicht«, sagte sich Faraday am Abend am Fenster stehend und das Glas Sherry genießend, das seinem Drehwurm und der Konfusion die Absolution erteilte. »Es ist tot, aber wir werden nie fertig werden.«
2 Das Wunder
Alle, die es wissen mussten, meinten, die Cholera würde von den Dünsten übertragen, die man sich nicht erst kompliziert vorstellen musste, wie so vieles in letzter Zeit. Jeder Londoner atmete sie Tag und Nacht. Die Cholera schlief nur manchmal, und manchmal eben nicht. 1853 und im Jahr darauf zum Beispiel schlief sie nicht, ihr Appetit war vorzüglich. Zehntausend Opfer.
Als innerhalb von drei Tagen in der Broad Street, anderthalb Meilen von der Institution entfernt, hundertsiebenundzwanzig Menschen starben, davon der größte Teil innerhalb weniger Stunden, verfolgte John Snow den Weg des Trinkwassers. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf einzelne Tote in anderen Vierteln. Bei der Verstorbenen Mrs. Eley in Hampstead konnte er nachweisen, dass sie sich Wasser aus dem Brunnen Broad Ecke Cambridge Street hatte bringen lassen. Das war Nostalgie, denn sie hatte früher dort gewohnt. Wegen der vielen Schlachthäuser, Kuhställe, Talgschmelzer und Hauthändler war sie nach dem Tod ihres Mannes weggezogen, wollte aber die Erinnerung an die gemeinsame Zeit nicht ganz aufgeben: Das Wasser aus ihrem alten Brunnen schmeckte ihr besonders gut.
Der Vikar von St Luke’s in der nahen Berwick Street, Reverend Henry Whitehead, wusste das noch nicht, als er selbstsicher meinte: »Es ist nicht das Trinkwasser.« Was denn, fragte man ihn ängstlich und bekam in äußerst klarer Aussprache zur Antwort: »Es ist die Intervention Gottes.«
Angesteckt und infrage gestellt vom Geist der Zeit machte sich Whitehead daran, dies zu beweisen. Sein Herrgott half ihm dabei und ließ ihn das Gerücht vom Brunnen
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