Die Entfuehrung
»Mir geht es wirklich gut. Ich würde aber gerne wissen, was zum Teufel da unten eigentlich passiert ist.«
»Ich weiß es selbst noch nicht genau. Als ich den Funkkontakt zu Ihnen verloren habe, haben wir jede Menge getarnte Agenten in den Zug geschickt - siebzehn sind insgesamt an den verschiedenen Bahnhöfen zugestiegen. Ich muss erst mit ihnen reden, um mir ein Bild machen zu können. «
»Wer hat den Zug angehalten?«
»Wir. Der als Obdachloser getarnte Agent stand in Funkkontakt mit dem Zugführer. Zwischen einzelnen Punkten im Tunnel war die Verständigung gut. Mehr Probleme gab's mit der Verbindung zwischen oben und unten. Als die Situation anfing, außer Kontrolle zu geraten, gab unser Agent das Zeichen, den Zug anzuhalten.«
»Irgendwelche Erkenntnisse über die Idioten, die mich bedrängt haben?«
»Nichts Vielversprechendes bisher. Wir haben ihre Fingerabdrücke direkt von der Metro-Station aus weggefaxt. Sie sind alle vorbestraft. Zwei von ihnen sind schon wegen Kleinkriminalität verurteilt worden, und zwar als Erwachsene. Drogen, Autodiebstahl.«
Die Kleinbusse fuhren in die FBI-Garage. Schwere Eisentore wurden heruntergelassen und sperrten die Journalisten aus. Aufgrund der dicken Betonwände machten sich in der Leitung Störgeräusche bemerkbar. »Wir sind angekommen«, sagte sie. »Wir sehen uns im Verhörzimmer.«
»Sie spielen doch hoffentlich nicht mit dem Gedanken, die Verdächtigen selbst zu verhören.
»Nein, aber ich möchte zusehen. Oder mindestens zuhören. «
Sie beobachtete, wie die Verdächtigen aus dem Bus geholt und schnell ins Gebäude gebracht wurden. Die beiden Jungs wirkten verwirrt und eingeschüchtert.
Sie verzog das Gesicht, während sie weiter in den Hörer sprach. »Also, diese Burschen sehen partout nicht wie gerissene Verbrecher aus, die eine Entführung planen. Die wirken doch mehr wie die letzten fünf oder sechs Leute auf der Erde, die noch nie etwas von der Entführung von Kristen Howe gehört haben.«
»Wir werden es erst erfahren, wenn wir sie verhören. Der Eindruck kann täuschen.«
»Eine Sache, die einer von ihnen gesagt hat, macht mich wirklich neugierig - der Anführer, also derjenige, der mich angegriffen und sich den Koffer geschnappt hat, sagte, bevor er starb, etwas wie: »Ich wollte doch bloß den Koffer, Lady.«
»Irgendwer muss ihm gesagt haben, dass in dem Koffer Geld war. Warum sonst sollten sie es darauf abgesehen haben?. Warum sonst sind sie kurz vor dem Bahnhof Forest Glen auf mich losgegangen, wo ich das Geld hinbringen sollte?«
»Im Verhör werden wir uns mit all diesen Fragen beschäftigen. Wir werden die Antworten bekommen.«
»Ich weiß«, sagte sie, »wenn der Bursche, den wir im Zug erschossen haben, nicht der einzige war, der die Antworten geben konnte.«
Harley antwortete nicht. Sie legte den Hörer auf und betrat das Gebäude.
Ungläubig verfolgte Tanya Howe auf dem Rücksitz der Limousine ihrer Mutter die Live-Übertragung aus Washington im Radio. Sie fühlte sich wie gelähmt. In ihrer Verzweiflung hätte sie gerne gewusst, was das alles zu bedeuten hatte, aber sie fürchtete sich, die Möglichkeiten näher ins Auge zu fassen.
Der Fahrer hatte während der ganzen Fahrt vom Hotel zurück geschwiegen. Sie konnte sich seine Gedanken nur vorstellen. Ihre Fingerkuppen waren von dem heißen Wasser immer noch aufgeweicht. Ihre Haut roch nach Chlor. Die Nässe aus ihrem Badeanzug fing an, ihren Mantel zu durchdringen. Sie war nach der Drohung von Buck LaBelle aus dem Fitnesscenter gerannt und hatte sich zu elend und zittrig gefühlt, um zu duschen und sich wieder anzuziehen.
Sie lugte durch die getönten Scheiben der Limousine, als sie ihrer Auffahrt näher kamen. Die Meute auf der Straße und auf dem Gehweg war deutlich angewachsen. Doppelt so viele Kleinbusse. Viel mehr Menschen und Kameras.
Das übliche Herumsitzen und Abwarten war vorbei. Alle waren beschäftigt mit Live-Reportagen von Tanya Howes Grundstück, mit denen sie Sendezeit ausfüllten, obwohl es gar nichts zu berichten gab.
Plötzlich erregte das Autoradio wieder Tanyas Aufmerksamkeit. Der Sprecher hatte den Namen ihres Vaters erwähnt - irgend etwas über seine Ankunft am Washington National Airport.
»Würden Sie es bitte lauter stellen«, bat Tanya den Fahrer.
Der Lärm nahm zu. Ein Stimmengewirr wie das Geschrei der Broker auf der New Yorker Börse. Laut Bericht war ihr Vater auf dem Flughafen, aber es hörte sich so an, als befände er sich mitten im
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