Die Entfuehrung
Fernsehberichterstattung, Flugblätter und Plakate, auf denen für Hinweise eine Belohnung ausgesetzt wurde, und unzählige andere Materialien –einige wichtige, andere in Bezug auf Emilys Entführung eher unerhebliche. Die Schachteln erweckten den Anschein, alles sei geordnet, was sich aber als trügerisch erwies. An manchen konnte sie sich nur noch schwach erinnern, nicht so sehr, weil seit damals so viel Zeit vergangen war, sondern weil ihre Gefühle seinerzeit wie betäubt gewesen waren. Sie wusste noch, dass sie zu den Treffen der Bürgerinitiativen gegen Kriminalität gegangen war und sich persönlich bei den Hunderten von Freiwilligen bedankt hatte, die die Gegend in der Nachbarschaft abgesucht hatten. Dennoch hatte sie keine genaue Erinnerungen mehr daran. Aber sie hatte noch die Notizen über Telefonanrufe. Sie hatte jeden Anruf vermerkt. Von Reportern, die ihre Geschichten mit menschlichen Aspekten anreichern wollten. Von wohlmeinenden Fremden und ihren falschen Beobachtungen. Von falschen Bekennern – Verrückte, die Aufmerksamkeit suchten – und von echten Perversen, die ein Kind von jemand anderem verletzt hatten und sich läutern wollten, indem sie Verbrechen beichteten, die sie nicht begangen hatten. Sie fand sogar die Visitenkarte der Hellseherin, bei der sie in ihrer Verzweiflung gewesen war, einer alten Zigeunerin, die Emilys Decke gehalten und Allisons Brieftasche gestohlen hatte und die Allison auf die sinnlose und absurde Suche in so entlegene Gegenden wie Kanada schicken wollte.
Allison war von ihren Erinnerungen überwältigt. Im Nachhinein war all dies wie ein riesiges Loch in ihrem Leben. Die Größe dieses Lochs ließ sich mit Kartons messen, auf denen jeweils außen ein Datum aufgedruckt war, beginnend im März 1992. Sie hatte sich bisher nie Gedanken darüber gemacht, aber zuerst hatte sie jede Woche einen Karton gefüllt, dann jeden Monat einen, und schließlich hatte sie für jeden weiteren ein Jahr gebraucht. Der letzte war fast leer. Es war, als könnte man an den Kartons ablesen, wie sich die Spur verloren hatte und die Hoffnung geschwunden war.
Die Kartons standen auf dem Esszimmertisch aufgestapelt, von einem Ende zum anderen. Der Stapel reichte fast bis an den Kronleuchter heran. Als sie beim ersten Karton anfing, sich einen gründlicheren Überblick zu verschaffen, schauderte es Allison. Schlimmstenfalls würde sie sich fühlen, als öffnete sie ein Grab. Dieser Gedanke war ihr unerträglich. Bestenfalls wäre es nur ein Aufreißen alter Wunden.
»Was soll das alles eigentlich?« fragte Peter.
Er stand in der Wohnzimmertür und klopfte sich den Staub des Dachbodens von seiner Hose. Allison, die am Kopfende des Esszimmertischs saß, sah auf und lugte über die Kartons.
»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, sagte sie mit gepresster Stimme. Der Gedanke, Peter von Mitch O'Brien erzählen zu müssen, flößte ihr Angst ein.
»Vielleicht kann ich ja helfen«, sagte er und zog sich einen Stuhl heran. »Bisher bin ich immer für dich dagewesen. Warum sollte ich jetzt ausgeschlossen sein?«
»Ich schließe dich nicht aus, Peter. Ob du es glaubst oder nicht, die Sache ist heute sogar noch vertrackter als vor acht Jahren.«
»So schwierig wird es schon nicht sein. Erzähl es mir einfach. «
Sie zögerte, holte tief Luft und sah ihn an. »Harley Abrams glaubt, es könnte zwischen dieser Entführung und der von Emily eine Verbindung geben.«
»Wieso?«
»Aus einer Menge von Gründen. Aber ich habe den Eindruck, dass er plötzlich einen Verdacht gegenüber meinem Exverlobten Mitch O'Brien hat.«
Peter zuckte zusammen. »O'Brien? Was hat denn der damit zu tun?
»Ich weiß nicht. Aber um ehrlich zu sein, ich habe mir insgeheim manchmal schon Gedanken über Mitch gemacht. Ist es purer Zufall gewesen, dass ich gerade mit ihm telefoniert habe, als sich jemand in mein Haus geschlichen und mir Emily vor der Nase weg geraubt hat? Oder hat Mitch mich absichtlich abgelenkt?«
Er sah sie mit großen Augen an, so überrascht war er von der Anschuldigung. »Aber was hat das mit Kristen Howes Entführung zu tun?«
»Nichts. Aber wir haben heute gerade herausgefunden, dass Mitch verschwunden ist. Und zwar ist er seit kurz vor der Entführung verschwunden.« »Glaubst du, er ist untergetaucht?« »Ich weiß nicht. Aber es gibt da noch etwas. Einige Monate vor der Entführung von Kristen hat er sich merkwürdig verhalten. Bevor er verschwunden ist.« »Woher weißt du das?«
»Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher