Die Entlarvung
protestierte sie. »Er muß es ja nicht erfahren, wenn ich dich weiterhin sehe.«
»Das halte ich für keine gute Lösung unseres Problems«, widersprach er. »Ich möchte nicht, daß du deinen Vater meinetwegen hintergehst. Dafür respektiere ich ihn viel zu sehr. Sprich mit ihm, Glory. Täusche ihn nicht. Lügen haben bekanntlich kurze Beine.« Sie überraschte ihn, indem sie in lautes Gelächter ausbrach.
»Nicht, wenn man geschickt genug lügt«, sagte sie. »Spiel hier nicht den Moralisten, Leo. Das paßt nicht zu dir. Wie hast du mich gerade genannt?«
»Glory«, antwortete er. »Für Menschen, die ich mag, denke ich mir immer einen Kosenamen aus. Hat du etwas dagegen?«
»Benutzt du bei deinen Freundinnen auch Kosenamen?« erkundigte sie sich.
Leo lächelte. »Nein«, betonte er. »Ich sagte doch, nur bei Menschen, die ich mag. Sollen wir noch eine Flasche bestellen? Und wie wäre es mit Tanzen?«
»Ich tanze nicht gern«, lehnte Gloria ab. »Ich habe überhaupt kein Gefühl für Rhythmus.«
»Ich wollte erst auch nicht in die Oper gehen«, hob Leo hervor. »Aber zusammen mit dir hat es mir gefallen. Also los, komm!«
Sie war ungeschickt. Und hatte tatsächlich kein Gefühl für Rhythmus, was Leo erstaunte, da sie ansonsten sehr musikalisch war. Offenbar schämte sie sich für ihren großen, schweren Körper. Darin lag das Problem. Sie sah unglücklich aus und schien sich fehl am Platz zu fühlen.
Er zog sie eng an sich. Sofort versteifte sie sich. Er nahm ihre Handgelenke und hielt sie fest hinter ihrem Rücken zusammen. Er merkte, wie sie sich entspannte, woraufhin er den Griff noch verstärkte. Sie begann, sich im Einklang mit ihm zu bewegen, und sträubte sich immer weniger. Siegesgewiß lächelte er über ihre Schulter hinweg. Nach ein paar Minuten führte er sie zum Tisch zurück.
»Das war doch gar nicht so übel«, meinte er. »Und du bist keineswegs so unrhythmisch, wie du behauptest.« Sie setzte sich und sah ihn durchdringend an.
»Am Ende ging es«, gab sie zu.
Er fuhr sie nach Hause. Vor dem stattlichen King-Domizil hielt er an und wandte sich an Gloria: »Wie soll es nun weitergehen, Glory? Ich kann dich zu Hause wohl nicht mehr anrufen.«
»Ich könnte mich bei dir melden«, entgegnete sie. »Ich überlege es mir …«
»Ich möchte nicht daran schuld sein, wenn es zwischen dir und deinem Vater Ärger gibt.«
»Darum mache ich mir keine Sorgen«, betonte Gloria. »Ich hintergehe ihn nur nicht gern. Wenn er nämlich dahinterkommt, läßt er es nicht an mir, sondern an dir aus.«
»Man legt sich besser nicht mit ihm an, ich weiß. Aber für dich würde ich das Risiko eingehen.«
»Ich überlege es mir«, wiederholte sie nüchtern.
Sie öffnete die Wagentür und stieg aus.
»Wir könnten uns nächste Woche treffen«, schlug er vor. »Ruf mich an!«
Sie nickte und wandte sich ab. Er wartete nicht, bis Gloria im Haus verschwunden war. Er hatte sich inzwischen an ihre abrupte Art, sich zu verabschieden, gewöhnt. Wie überhaupt an ihr etwas derbes Benehmen, das sie sich von ihrem Vater abgeguckt hatte. Leo war überzeugt, daß King ihm – ohne davon etwas zu ahnen – den Zugang zu Gloria erleichtert hatte. Perversionen sprachen sie an. Die Art, wie er sie auf der Tanzfläche an den Handgelenken festgehalten hatte, hatte sie erregt. Merkwürdigerweise war es ihm nicht anders ergangen. Die Vorstellung, das arrogante, unförmige Luder hilflos vor sich liegen zu sehen, brachte sein Blut in Wallung. Er hatte irgendwo gelesen, daß Frauen mit einem Vaterkomplex häufig nur dann sexuelle Erfüllung fanden, wenn sie sich unterwarfen und sich züchtigen ließen. Auf diese Weise bauten sie ihre Schuldgefühle ab, die aus ihren unterbewußten, inzestuösen Wunschvorstellungen resultierten. Er lächelte und schaltete das Radio ein. Die Zeit würde es ans Licht bringen.
Julias Mutter liebte es, sich nach einer geselligen Zusammenkunft ausführlich über den Verlauf des Ereignisses auszutauschen. Julias Vater wollte eigentlich schlafen, ließ seine Frau aber gewähren. Außerdem war er selbst sehr interessiert. »Er ist offensichtlich verliebt in sie«, meinte May Hamilton. »Und er hat mir gefallen.«
»Aber?« hakte ihr Mann nach, weil sie nicht weitersprach.
»Er ist geschieden, hat erwachsene Kinder, ist einiges älter …«
»Meine Liebe, den perfekten Mann gibt es nicht. Heutzutage wird bereits jede dritte Ehe geschieden. Außerdem wird Julia in ihrem Alter kaum noch einen
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