Die Entlarvung
beobachtete er sie und stellte dabei fest, wie sehr sie sein Leben verändert hatte. Vor Sonntagen hatte es ihm sonst immer gegraut. Er hatte nichts mit sich anzufangen gewußt, hatte sich vor der leeren Wohnung gefürchtet. Oft hatte er sich eine Flasche Whiskey geschnappt und so lange getrunken, bis er eingeschlafen war. Wenn er jetzt an einem Sonntagmorgen aufwachte, dachte er an die freie Natur. Er war auf dem Land groß geworden. Sein Vater war ein begeisterter Vogelliebhaber gewesen und hatte für eine Weile auch Bens Interesse dafür geweckt. Seine Eltern waren einfache, zufriedene Leute gewesen, die kaum Ansprüche gestellt hatten. Sie waren mit einem klugen, ehrgeizigen Sohn gesegnet. Ben hatte sich oft gefragt, ob er wirklich so ein Segen für sie gewesen war. Eine ausländische Frau, eine zerbrochene Ehe, Enkelkinder, die sie kaum zu Gesicht bekommen hatten. Beide Eltern waren inzwischen tot. In den wenigen Minuten, die Julia am Telefon zubrachte, gestand er sich ein, wie sehr er die Vergangenheit bereute. Für seine Eltern kam diese Einsicht zu spät, aber jetzt bot sich ihm eine zweite Chance. Eine Chance mit der Frau, die er liebte, und mit seiner Tochter. Sein Sohn Frank hatte ihm Grüße über Lucy bestellt. Er war derjenige von den beiden Kindern, der sich nach der Scheidung besonders feindselig verhalten hatte. Vielleicht kam ja doch noch alles in Ordnung, dachte Ben.
Julia legte auf und drehte sich zu ihm um. Sie sah fröhlicher aus, nicht mehr so abgespannt.
»Sie freuen sich riesig«, verkündete sie. »Sonntag ist ihnen recht. Ich muß dich warnen – Mum ist eine ausgezeichnete Köchin und futtert einen so lange, bis man zu platzen meint. Eine Sache noch …« Sie zögerte einen Augenblick. »Sie möchten mich unbedingt an den Mann bringen. Ich konnte in Mums Stimme regelrecht die Hochzeitsglocken läuten hören. Das macht dir doch nichts aus, oder?«
Er ließ sich nichts anmerken. »Überhaupt nicht, J., keine Sorge. Im Odeon läuft übrigens der neue Harrison-Ford-Film. Wollen wir nicht hingehen?«
»Manche Männer«, sagte Julia belustigt, »werden nie erwachsen … Ich hole nur schnell meinen Mantel.«
»Gloria hat sich schon wieder mit diesem Leo verabredet«, bemerkte Marilyn King. King sah auf und runzelte die Stirn. »Das scheint ja zur Gewohnheit zu werden. Was führt der Kerl im Schilde? Ich rede mit ihr.«
»Warum mußt du dich einmischen, Darling? Sie hat doch noch nie einen Freund gehabt. Ich glaube, er gefallt ihr.« Marilyn konnte sich zwar nicht vorstellen, daß irgendein Mann ihre Tochter attraktiv finden würde, aber die Hoffnung, Gloria doch noch loszuwerden, ließ sie ihre Partei ergreifen.
»Unsinn«, fauchte King. »Wie könnte ihr so eine Null gefallen! Außerdem rede ich mit ihr, wann es mir paßt.« Er konzentrierte sich wieder auf seine Zeitung. Nach einer Weile wandte er sich jedoch erneut an seine Frau: »Wo will sie denn mit ihm hingehen?«
»Sie hat es mir nicht gesagt«, entgegnete Marilyn mit ihrer weichen Stimme. »Letzte Woche waren sie in der Oper. Pavarotti. Du hast keine Karten mehr bekommen, erinnerst du dich?«
Sein Gesicht lief vor Wut rot an. Böse funkelte er seine Frau an.
»Ich habe es erst gar nicht versucht. Du wolltest hingehen, nicht ich.« Leo Derwent umwarb seine Tochter. Er hätte ihr von Anfang an nicht erlauben sollen, mit ihm auszugehen. Er würde der Sache jetzt sofort ein Ende bereiten. Ungehalten warf er die Zeitung zur Seite. »Wo ist sie?« fragte er barsch. Marilyn kannte diesen Ton in seiner Stimme.
»Oben, auf ihrem Zimmer«, antwortete sie. »Sie macht sich fertig.« Ihre Hoffnungen waren zerschlagen. King würde es nie zulassen, daß ein anderer Mann seine Tochter eroberte. Sie seufzte und fügte sich ins Unabänderliche – so wie sie es während ihrer ganzen Ehe getan hatte. Sie stellte keine großen Ansprüche ans Leben. Der Luxus, den King ihr bot, die schönen Kleider und ihre gesellschaftlichen Aktivitäten reichten ihr völlig aus. Sie hatte sich Kings sexuellen Wünschen angepaßt, bis er offensichtlich das Interesse an ihr verloren hatte. Sie hatte ihm ein Kind geschenkt und war überrascht gewesen, daß er nicht auf weitere Versuche bestanden hatte, einen Sohn zu zeugen. Er hatte sich mit Hingabe seiner Tochter gewidmet und sie selbst fortan in Ruhe gelassen.
Sie hatte sich nie auf irgendwelche Liebschaften eingelassen. Sex interessierte sie nicht sonderlich. Sie hatte den Vorgang als Mittel zum Zweck
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