Die Entlarvung
mir – sobald ein derartiges Gerücht in der Presse auftaucht, werden Westerns Aktien fallen. An der Börse geraten die Leute heutzutage immer gleich in Panik. Sie werden sehen, wie viele Gesellschafter ihre Aktien abstoßen. Und King wird sie alle aufkaufen. Gegen das Kapital, das er angehäuft hat, hat Western keine Chance.« Er lächelte schadenfroh. »Sie werden also bald ohne Job sein … es sei denn, Sie finden die Beweise, nach denen Sie suchen. Wie kommen Sie voran?«
»Wir sind ganz nahe dran«, meinte Julia. Leos Augen glänzten. »Dieser Hundesohn«, stieß er aus. »Wie der mich reingelegt hat. Kann ich denn nicht sonst noch etwas tun?«
»Nein, es sei denn, es gelänge Ihnen, King betrunken zu machen«, erwiderte Julia bitter.
»Er rührt Alkohol nicht an, keinen Tropfen. Das ist allgemein bekannt. Ich verstehe also nicht, was Sie …«
»Vor Jahren ist er einmal betrunken gewesen«, erklärte Julia. »Betrunken und sehr gesprächig. Alle Personen, die von seinen Reden erfahren haben, sind tot. Alle außer mir.«
Er starrte sie ungläubig an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst?«
»Mein völliger Ernst. Ich habe Ihnen doch erzählt, daß ich King wegen eines Verbrechens auf der Spur bin?«
Er nickte.
»Es handelt sich um Mord«, sagte sie ruhig. »King hat 1942 in der Sahara mehrere unbewaffnete britische Kriegsgefangene niedergeschossen. Hoffentlich begreifen Sie jetzt, mit wem wir es zu tun haben. Ich wäre an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger mit der Tochter. Ziehen Sie sich allmählich zurück. King hat seine Meinung über Sie sicher nicht geändert – was immer er seiner Tochter erzählen mag.«
»Danke für den Tip«, erwiderte er knapp. »Aber was sorgen Sie sich um mich?«
»Ich habe mit dem Fall schon genug Schuld auf mich geladen«, entgegnete Julia. »Mit Ihnen möchte ich mich nicht auch noch beschäftigen müssen.« Sie erhob sich. »Ich gehe jetzt besser. Sehen Sie Gloria, wenn sie aus den Staaten zurückkommt?«
»Am selben Abend noch«, antwortete Leo. »Ich habe ein intimes Wiedersehen geplant. Wenn es stimmt, was Sie sagen … sollten Sie dann nicht einen Begleitschutz haben?«
»King denkt, daß ich den Fall aufgegeben habe. Außerdem ist meine Wohnung so sicher wie Fort Knox. Machen Sie sich also um mich keine Gedanken.«
»Ich melde mich, sobald ich mich mit Gloria getroffen habe.«
»Dann gehe ich jetzt.« Julia verließ das Parlamentsgebäude und schlug, einem Impuls folgend, den Weg zum St.-James-Park ein. Es war ein frischer Winternachmittag. Weihnachten kündigte sich an. Alle Geschäfte hatten ihre Auslagen festlich dekoriert, die Kunden eilten zielstrebig von Schaufenster zu Schaufenster. Weihnachten. Ihre Mutter wollte sie und Ben über die Feiertage einladen. Nach Weihnachten stand ihr jedoch überhaupt nicht der Sinn. Sie mochte weder an Geschenke noch an Truthähne und Familientreffen denken, solange Harold King auf freiem Fuß war. William Western trieb sich in Brasilien herum. Er erwartete, daß sie King in der Dezemberausgabe der ›Enthüllungen‹ ans Messer lieferte. Sie hatte den ganzen Artikel bereits im Kopf. Jede Überschrift, jeder Absatz war formuliert, jedes Wort hatte sich ihr ins Gedächtnis eingegraben. Aber der Artikel war wertlos, solange Harold King nicht als der deutsche Gefangene identifiziert wurde, dessen Leben Richard Watson gerettet hatte. Und der trotzdem so grausam Rache an den britischen Soldaten genommen hatte. William Western war der einzige Mensch, der den noch fehlenden Beweis erbringen konnte.
Es war zu kalt, um auf den Parkbänken entlang des Sees zu sitzen. Daher ging Julia weiter in Richtung Whitehall. Die Dächer das alten Palastes ragten hinter den Baumwipfeln hervor und schimmerten hell in der frostigen Winterluft. Mit dem Türmchen in der Mitte sah das Ganze direkt orientalisch aus. In den Annalen des Wüstenkriegs fand sich keinerlei Hinweis auf ein deutsches Massaker an britischen Gefangenen. Nicht einmal ein entsprechendes Gerücht hatte kursiert. Sie konnte sich lediglich auf das Geständnis des betrunkenen Hans König berufen. Und auf den Verdacht eines mittlerweile toten Offiziers namens Phillips, der sich um den Verbleib seiner Männer gegrämt hatte. William Western, der einzige Überlebende, beharrte auf seiner Aussage, daß sie in ein Gefecht zwischen einer deutschen und einer britischen Patrouille geraten seien.
Julia blieb vor dem beeindruckenden Kriegerdenkmal stehen. Die Glocke des Palastes schlug
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