Die Entlarvung
Verletzungen, die sie davongetragen hatte, und ihre Freundin Tina waren die einzigen Zeugen, die Joe Patrick mit dem Armband in Verbindung bringen konnten.
Sie fand das Haus an der stark befahrenen Brixton Road, ein heruntergekommenes Gebäude im spätviktorianischen Stil. Die Mauern zeigten Risse, die Fenster im Erdgeschoß waren verrammelt. Im ersten Stock hingen ein paar lose Stoffetzen hinter zersprungenen Scheiben. Es gab keine Klingel, lediglich einen altmodischen Türklopfer. Nachdem Mandy ihn mehrmals betätigt und längere Zeit gewartet hatte, wurde die Tür von einer Frau geöffnet, die ein kleines Kind auf dem Arm hielt. »Ich möchte zu Tina und Tracey. Sind sie zu Hause?« erkundigte Mandy sich freundlich.
»Sie sind oben«, erwiderte die Frau. Das Kind strahlte Mandy an. Mandy lächelte zurück und strich sanft über sein weiches, rundes Bäckchen.
»Was für ein Wonneproppen«, sagte sie. »Wie alt ist es?«
»Vierzehn Monate. Immer gut gelaunt … weint nie.« Die Frau sprach mit westindischem Akzent. »Gehen Sie nur hinauf«, forderte sie Mandy auf und trat zur Seite, um die Besucherin vorbeizulassen.
Die Schwellungen auf Traceys Gesicht waren zurückgegangen. Auch ihr Kiefer heilte allmählich, verursachte ihr aber immer noch starke Schmerzen. Sie sah elend und verhärmt aus. Tina war die Stärkere der beiden. Sie besaß mehr Selbstvertrauen.
»Ich dachte, ich komme mal vorbei und sehe nach, wie es euch geht«, begann Mandy. Beide Mädchen verzogen keine Miene.
»Haben Sie Ihren Beruf gewechselt? Sind Sie jetzt auf dem sozialen Trip?« fragte Tina schnippisch.
Mandy blieb ruhig. »Nein. Ihr habt es doch gehört, ich wollte nach euch sehen. Wie geht es dir, Tracey?«
»Schon besser«, murmelte das Mädchen. »Die Wunden verheilen.«
»Weiß der Kerl, wo ihr seid?«
»Nein«, antwortete Tina. »Er wird uns auch nicht finden. Sobald Tracey reisefähig ist, gehen wir nach Liverpool. Meine Freundin kennt dort jemanden, bei dem wir unterschlüpfen können. Aber weshalb sind Sie hier? Kommen Sie mir nicht mit der freundlichen Tour. Sie sind Polizistin. Also, was wollen Sie von uns?« Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sie sich breitbeinig vor Mandy auf. Sie hatte keine Angst vor der Beamtin. Tracey und sie waren beide sauber. Keine Männer, keine Drogen, nichts seit jener schrecklichen Nacht. Sie starrte die Polizistin, Vertreterin weißer Amtsgewalt, an. Leute wie Mandy Kent hatten sie von Kindesbeinen an herumgeschubst, hatten sie in Gewahrsam genommen und in Heime gesteckt. Nur weil sie für ein paar Pfund in Nachtlokalen gearbeitet hatte, um sich irgendwie am Leben zu erhalten. Nachdem sich beide Eltern aus dem Staub gemacht und nur den kleinen Bruder mitgenommen hatten. Mandy antwortete nicht. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus.
»Darf ich rauchen? Möchtet ihr auch eine?« Sie bot den Mädchen die Schachtel an.
»Nein«, zischte Tina. »Warum lassen Sie uns nicht in Ruhe?«
Mandy Kent traf eine Entscheidung. Nettigkeiten brachten sie offensichtlich nicht weiter. Auf diese Weise würde sie das Vertrauen dieser Mädchen nicht gewinnen.
»Weil es nicht anders geht«, erwiderte sie scharf. »Weitere Polizeibeamte sind bereits unterwegs. Sie wollen euch ein paar Fragen stellen. Ernste Fragen. An deiner Stelle würde ich mich nicht so vorlaut benehmen, Tina. Es könnte sonst sein, daß du dich bald in ernsthaften Schwierigkeiten befindest.«
Zehn Jahre Polizeidienst hatten Mandy abgehärtet. Sie war durchaus in der Lage, für sich einzustehen und eine härtere Gangart einzuschlagen, wenn man ihr frech kam. Tina erblaßte unter ihrer dunklen Haut. Tracey stieß einen angsterfüllten Laut aus.
»Was für Schwierigkeiten?« Tina ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Wir haben nichts getan, man kann uns nichts vorwerfen.«
»Ihr erinnert euch an das Armband … die Ursache für den Streit und die Schläge, die ihr beide bezogen habt«, sagte Mandy. »Nun, es war gestohlen. Wußtet ihr das?«
»Nein.« Tina mußte sich setzen. Diebstahl. Ihr konnten sie alles anhängen. Sie hatte keine Ahnung, wo das Armband hergekommen war. Sie wußte nur, daß Joe es ihr gegeben hatte.
»Ich habe es geschenkt bekommen. Von Joe. Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt.«
»Ich weiß«, bestätigte Mandy. »Wir haben unseren Computer befragt und es dort wiedergefunden – als gestohlenes Eigentum. Entwendet bei einem Einbruch in Midhurst. Ihr habt nichts
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