Die Entlarvung
natürlich recht. Es muß eine Korrespondenz gegeben haben – mit Anträgen, Nachweisen, Referenzen und ähnlichem. Wieso habe ich das damals übersehen?«
»Weil du nicht danach gesucht hast«, bemerkte Julia. »Du warst zu dem Zeitpunkt nicht auf Phyllis Lowe sondern auf King fixiert. Da fällt mir etwas ein – diese Signatur. Major Grant.« Sie stand hastig auf.
»Ben, wenn wir ihn finden, bekommen wir unsere Informationen.«
»Wenn er noch lebt«, überlegte Harris. »Bei Kriegsende hat es einige recht junge Majore gegeben. Er könnte in den Siebzigern sein. Du bist wirklich genial. Major A. B. Grant, Verbindungsoffizier der UNRRA. Hier ist seine Unterschrift. Laß uns gehen. Wir müssen gleich jemanden darauf ansetzen.«
Julia fröstelte. In dem düsteren Archiv war es unangenehm kalt. Jemand hatte die Akten manipuliert. Also waren sie auf der richtigen Spur. Harold King hatte Phyllis Lowe zur Ersatzmutter hochstilisiert, wollte aber offensichtlich vermeiden, daß die Welt mehr über sie erfuhr.
Harris drückte auf die Klingel. Nach ein paar Minuten erschien dieselbe junge Frau, die sie auch hinunterbegleitet hatte. Sie hatte es eilig, die Besucher loszuwerden, da sie wohl nach Hause gehen wollte. »Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?« erkundigte sie sich.
»Ja, danke. Wir sind auf einige nützliche Informationen gestoßen«, erwiderte Ben.
»Unterschreiben Sie bitte hier.« Sie schob ihnen einen Besucherschein zu, auf dem vermerkt war, daß die Akte Nr. 17.203 nach vorangegangener Durchsicht in unverändertem Zustand zurückgegeben worden war. »Beide Unterschriften, bitte«, verlangte das Mädchen.
Ben reichte Julia das Formular und einen Stift.
»Diese Besucherscheine müssen Sie sicher häufig ausstellen. Was machen Sie damit? Bewahren Sie sie alle auf?« fragte Ben.
»So viele Leute kommen gar nicht hierher«, klärte ihn das Mädchen auf. »Zumindest an den alten Sachen besteht kaum ein Interesse. Die Dokumente jüngeren Datums haben wir auf Computern gespeichert. Aber dieses alte Zeug« – sie zuckte mit den Schultern – »liegt einfach nur herum und vergammelt. Irgendwann räumen wir gründlich auf damit und werfen alles weg. Wir könnten den Platz gut gebrauchen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, pflichtete Ben bei. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Seit drei Jahren. Danke sehr.« Sie nahm von Julia das Formular entgegen.
»Wo bewahren Sie diese Besucherscheine auf?« fragte Ben erneut. Die junge Frau drängte ihn und Julia zur Tür. »Wir bewahren sie nicht auf. Die Daten werden in den Computer eingegeben. Entschuldigen Sie, aber wir müssen uns beeilen. Ich bringe Sie nach oben.« Sie verschloß den Archivraum und führte sie zurück in die Eingangshalle. Julia und Ben traten hinaus in den spätnachmittäglichen Sonnenschein.
»Danke schön«, rief er über die Schulter zurück. »Bitte«, erwiderte die junge Frau und schloß die Tür.
Julia und Ben gingen zu ihrem Mietwagen.
Aus dem Fenster beobachtete die Frau, wie sie langsam davon schlenderten. Dann lief sie zum Anmelderaum und rief: »Frau Walter?« Keine Antwort. Die Kollegin hatte ihr Büro pünktlich mit dem Glockenschlag verlassen. Die Mitarbeiter aus den übrigen Büros befanden sich ebenfalls im Aufbruch. Bevor auch der alte Hausmeister aus dem Gebäude ging, würde er noch alle Türen abschließen und die Fenster überprüfen.
Die Frau nahm sich das Telefon und wählte eine Nummer. Sie wurde mit einem Anrufbeantworter verbunden, auf dem sie eilig eine Nachricht hinterließ. »Hier ist Minna. Ein Mann und eine Frau aus England waren heute hier. Sie haben sich für die Akten der britischen Kontrollkommission von 1948/49 interessiert. Ich notierte mir ihre Namen.« Nachdem sie aufgelegt hatte, vergewisserte sie sich, daß sie von niemandem beobachtet worden war. Dann schloß sie sich den letzten Beamten und Angestellten an, die das Gebäude verließen.
»Ich habe einen Freund«, verkündete Ben, »mit Kontakten zum Kriegsministerium. Vielleicht kann er die Akten einsehen.«
»Wie viele Freunde hast du eigentlich?« wunderte sich Julia.
»Gehört zu meinem Job«, antwortete er. »Kontakte sind alles, wenn man als erster an eine gute Geschichte herankommen will. Ich habe besagtem Mann vor ein paar Jahren einen Gefallen getan. Es handelt sich um einen bekannten General, der unliebsam aufgefallen ist, weil er sich mit Strichjungen in irgendeinem Schwulenclub eingelassen hat. Er ist daraufhin in den
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