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Die Entmündigung (German Edition)

Die Entmündigung (German Edition)

Titel: Die Entmündigung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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gibt, wo man übrigens Herrn d'Espard für ruiniert hielt und wo alle Welt, vom Kleinsten bis zum Größten, die Privilegien des Adels einem Adligen ohne Geld vorhält, aus dem gleichen Grunde, wie jeder sie einen reich gewordenen Bürgerlichen für sich in Anspruch nehmen läßt. So machte sich das Fehlen einer Verbindung zwischen dieser Familie und den übrigen Menschen auf moralischem wie auf physischem Gebiete geltend.
    Bei dem Vater wie auch bei den Kindern stand Äußeres und Inneres in Harmonie. Herr d'Espard, damals ungefähr fünfzig Jahre alt, hätte als Modell für die adlige Aristokratie im neunzehnten Jahrhundert dienen können. Er war schlank und blond, sein Gesicht hatte in seinem Schnitt und allgemeinen Ausdruck die angeborene Vornehmheit, die auf eine edle Gesinnung hindeutet; aber sie trug den Stempel einer berechneten Kälte, die ein wenig zuviel Respekt verlangte. Seine Adlernase, am Ende von links nach rechts umgebogen, eine leichte Abweichung, die nicht ohne Reiz war; seine blauen Augen, seine hohe Stirn, die an den Augenbrauen ziemlich stark hervorsprang und eine Art Rampe bildete, die das Licht absperrte, indem sie das Auge beschattete, zeigten ein gerades Denken, eine empfindliche Beharrlichkeit und große Loyalität an, gaben aber gleichzeitig seiner Physiognomie ein fremdartiges Aussehen. Diese Krümmung der Stirn hätte in der Tat an ein wenig Irrsinn glauben lassen, und seine dicken Augenbrauen, die sich einander näherten, verstärkten noch das Bizarre der Erscheinung. Er besaß die weißen und gepflegten Hände der Adligen, seine Füßen waren schmal und hoch. Seine nicht nur in der Aussprache, die der eines Stotterers glich, sondern auch im Ausdruck der Gedanken unbestimmte Sprechweise, seine Gedanken und Worte riefen bei dem Zuschauer den Eindruck eines hin und her schwankenden Mannes hervor, der lieh, mit Unsinn befaßt, an alles rührt, seine Gesten unterbricht und nichts zu Ende bringt. Dieser rein äußerliche Fehler kontrastierte mit dem entschiedenen Schnitt seines Mundes, der voll Festigkeit war, und mit der Energie seines Gesichts. Sein etwas abgehackter Gang paßte zu seiner Art zu sprechen. Diese Eigenheiten trugen noch dazu bei, den Glauben an seinen angeblichen Irrsinn zu bestärken. Trotz seiner Eleganz war er für seine Person von systematischer Sparsamkeit und trug drei bis vier Jahre denselben schwarzen Überrock, der mit äußerster Sorgfalt von seinem alten Kammerdiener gebürstet wurde. Seine Kinder waren beide schön und voller Grazie, die aber den Ausdruck aristokratischer Verachtung nicht ausschloß. Sie besaßen die frische Farbe, den klaren Blick und die Durchsichtigkeit der Haut, die auf reine Sitten deutet, auf regelmäßiges Leben und planvolle Abwechslung zwischen Arbeit und Erholung. Beide hatten schwarzes Haar und blaue Augen, aber die Nase gebogen wie die ihres Vaters; vielleicht hatten sie von ihrer Mutter die Würde im Ausdruck und im Blick und die bei den Blamont-Chauvry traditionelle Haltung. Ihre wie Kristall klare Stimmen besaßen die Gabe zu rühren und die Weichheit, die etwas so sehr Verführerisches hat; es waren Stimmen, wie sie eine Frau gern hören wollte, wenn sie die Flamme ihrer Blicke aufgefangen hatte. Sie bewahrten sich besonders ihren bescheidenen Stolz, eine keusche Zurückhaltung, ein noli me tangere, das in späterer Zeit als Wirkung der Berechnung hätte erscheinen können, so sehr flößte diese Haltung Lust ein, sie kennenzulernen. Der ältere, der Graf Clément de Nègrepelisse, war eben sechzehn Jahre alt geworden. Seit zwei Jahren hatte er seine hübsche kleine englische Jacke abgelegt, die sein Bruder, der Vicomte Camille d'Espard, noch beibehielt. Der Graf, der seit etwa sechs Monaten nicht mehr in das Gymnasium Henri IV. ging, war gekleidet wie ein junger Mann, der sich dem ersten Glück, wie es die Eleganz verleiht, hingibt. Sein Vater wollte ihn nicht unnötig ein Jahr Philosophie studieren lassen, sondern versuchte, seinen Kenntnissen eine Art Zusammenhang zu verleihen durch das Studium der höheren Mathematik. Zu gleicher Zeit lehrte der Marquis ihn die orientalischen Sprachen, das europäische Völkerrecht, die Heraldik und die Geschichte an ihren bedeutenden Quellen, an der Hand von Karten, von authentischen Schriftstücken, an der Sammlung von Verordnungen. Camille war kürzlich in die Klasse der Rhetorik eingetreten.
    Der Tag, an dem Popinot Herrn d'Espard zu vernehmen beabsichtigte, war ein Donnerstag, schulfrei.

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