Die Entscheidung
Fenster, während der Metro-Zug nach Norden rollte. Er wusste, dass er es nicht tun sollte – aber er konnte einfach nicht anders; er zog das Handy aus der Tasche hervor und schaltete es ein. Rasch tippte er die Nummer ein und zählte aufgeregt die Sekunden. Nachdem es dreimal geläutet hatte, meldete sich ihr Anrufbeantworter. Mitch lauschte ihrer Stimme, wartete bis zum Piepton und beendete dann enttäuscht die Verbindung. Rapp war voller Zweifel; er fragte sich, ob es nicht besser wäre, einfach auszusteigen und das alles hinter sich zu lassen. Die Frage war, ob sie ihn so einfach aussteigen lassen würden. Er stand so nahe vor dem Ziel seiner Wünsche. Warum hatte er diesen letzten Auftrag überhaupt noch annehmen müssen? Warum hatte er nicht einfach Lebewohl gesagt? Er nahm seine Baseballmütze ab und strich mit der Hand über sein kurzes schwarzes Haar. Er wusste die Antwort auf seine Fragen – doch er wollte es sich in diesem Moment nicht eingestehen. Er wollte nur eines: Anna. Er wollte das alles hinter sich lassen und mit ihr ein ganz normales Leben führen.
Irene Kennedy betrat das Konferenzzimmer im sechsten Stock des CIA-Hauptquartiers in Langley, Virginia, und stellte ihr Notepad auf den Tisch. Das Mittagessen würde wohl warten müssen, nachdem diese Sitzung so unvermutet einberufen worden war. Der rechteckige Raum lag direkt neben dem Büro des Direktors. Er war funktionell mit einem Mahagonitisch und einem Dutzend Ledersesseln eingerichtet. Das Konferenzzimmer wurde jeden Morgen vom Office of Security durchsucht – der »Gestapo« der CIA, wie sie von manchen der über zwanzigtausend Beschäftigten der Agency liebevoll genannt wurde. Hinter den Vorhängen waren kleine Geräte verborgen, die die Fenster in leichte Vibration versetzten, sodass sie von Parabolmikrofonen nicht durchdrungen werden konnten. Aus verständlichen Gründen war die CIA sehr auf Sicherheit bedacht, und am allermeisten achtete man darauf im sechsten Stock, wo die Führungsspitze der Agency beheimatet war.
Es saßen bereits vier Personen am Konferenztisch, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Max Salmen, der Älteste der Anwesenden, schätzte die anderen – mit Ausnahme von Irene Kennedy – nicht besonders; er hielt jeden von ihnen für eine Mischung aus Bürokrat, Politiker und Anwalt und traute keinem von ihnen zu, die richtigen Entscheidungen aus den richtigen Motiven zu treffen. Sie leiteten drei der vier stellvertretenden Zentralstellen der Agency, und Salmen leitete die vierte. Als Leiter der Operationsabteilung war Salmen für die Spione verantwortlich. Seine Leute waren es, die die Geheimoperationen durchführten, die Agenten von Freund und Feind rekrutierten, sich mit der Gegenspionage beschäftigten und die Terroristen aufspürten und verfolgten. Seine Leute arbeiteten an vorderster Front; sie waren diejenigen, die die Dreckarbeit erledigten und das größte Risiko eingingen. Salmen hatte zusammen mit Stansfield in Europa gekämpft, und später, als Stansfield in der Agency Karriere machte, kletterte der etwas bärbeißige Salmen mit ihm empor. Salmen war Irene Kennedys unmittelbarer Vorgesetzter, wenngleich sie oft direkt mit Stansfield zu tun hatte.
Die drei anderen Leute am Tisch hatten ebenfalls wichtige Funktionen innerhalb der Agency inne. Charles Workman leitete die Intelligence-Abteilung; seine Leute waren die Bücherwürmer, die tagaus, tagein Unmengen von Informationen sammelten. Rachel Mann leitete die Abteilung Science and Technology, und Stephen Bauman war für die Administration verantwortlich.
Von den dreien hatte Salmen am wenigsten für Workman übrig, aber Bauman war ihm auch nicht viel sympathischer. Mit Rachel Mann war es ein klein wenig anders; sie hätte Salmen unter anderen Umständen wahrscheinlich sogar gemocht. Sie war eine kluge Frau und hielt sich auch weitgehend aus den politischen Intrigenspielen heraus, in denen Workman und Bauman sich so hervortaten – doch letzten Endes wollten sie alle mehr Geld für ihre Abteilungen, und das ging meistens zu Lasten der Operationsabteilung. Salmen wusste genau, dass sein Budget weiter gekürzt worden wäre, wenn der Terrorismus in jüngster Vergangenheit sich nicht wieder so stark bemerkbar gemacht hätte.
Salmen faltete seine nikotingebräunten Hände über dem Bauch und fragte sich, wie lange er wohl noch auf seinem Sessel sitzen würde. Seine Tage in der Agency waren wohl gezählt. Er gehörte seit 1964 der CIA an, war in Kambodscha und
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