Die Entscheidung
Mund!«, schrie Dee. Es war ein schlechter Ort für einen Schrei, denn das Echo hallte tausendmal wider. Doch was Jenny am meisten Angst machte, war
der verzweifelte Unterton in Dees Stimme. Dee weinte niemals, aber jetzt klang sie den Tränen nah.
»Verzweiflung«, flüsterte Jenny plötzlich. Sie packte Dee am Arm. »Siehst du nicht, was er mit uns vorhat? Der Tunnel der Liebe und Verzweiflung – und er will, dass du verzweifelst. Damit du aufgibst, damit du aufhörst, dich zu wehren.«
»Sie sollte auch besser aufgeben«, stimmte Julian zu. Der seltsame wilde Ausdruck in seinen Augen strahlte heller denn je. »Sie besteht aus nichts als heißer Luft. Stolziert herum, zeigt ihre Muskeln, sagt: ›Schaut mich alle an‹. Aber dahinter ist gar nichts.«
Da fiel Jenny etwas ein. Sie grub Dee ihre Finger noch tiefer in den Arm und sagte: »Ich bin mein einziger Herr.«
Dee drehte schwach den Kopf, wie ein erschrockener Vogel.
»Ich bin mein einziger Herr«, flüsterte Jenny eindringlich. »Mach schon, Dee. Du hast es gesagt, und es ist wahr. Er kann dir nichts antun. Er zählt nicht. Du bist dein einziger Herr.«
Sie spürte, wie Dee den Atem ausstieß.
»Bezieht ihre Philosophie aus Kung-Fu-Filmen«, fuhr Julian fort. »Denkt, Glückskekse seien große Literatur.«
»Ich bin mein einziger Herr!«, rief Dee.
»Richtig.« Jennys Kehle schmerzte. Sie hielt Dees Arm immer noch fest umklammert. Dee verdrehte ihren Hals wie ein schwarzer Schwan, um Jenny für einen
Moment in die Augen sehen zu können. Jenny sah Tränenspuren auf der dunklen Haut, die leuchtend blau und purpurn im Licht schimmerten, dann drehte Dee sich wieder um.
»Ich bin mein einziger Herr«, sagte sie erneut mit fester Stimme zu Julian.
Auf dem hinteren Sitz regte sich etwas. »Und sie ist klug«, erklärte Audrey zu Jennys Erstaunen. »Und mutig. Sie hat so viele mutige Dinge getan, seit ich verletzt worden bin. Sie wollte nicht, dass ich mich verletze, und ich habe auch nie gedacht, dass sie es wollte.«
Dee drehte sich um und warf Audrey einen dankbaren Blick zu. Ihre Schultern strafften sich, und so saß sie da, stolz und hoch aufgerichtet wie Nofretete.
»Außerdem sind das College und Literatur nicht alles« , bemerkte Michael und erstaunte Jenny damit noch mehr.
»Ich dachte, sie wären es – für dich «, sagte Julian. Er sah jetzt Michael direkt an, und seine Stimme klang so schön wie Ebenholz und Silber.
Michael schien ein wenig kleiner zu werden.
»Du bist doch derjenige, der über die verschiedensten Dinge liest, statt sie tatsächlich zu tun. Weil du davor Angst hast. Du redest über deine Bücher – oder machst Witze. Der Klassenclown. Aber die Leute lachen über dich, nicht mit dir, weißt du.«
»Nein, tun sie nicht«, widersprach Michael zu Jennys
weiterer Überraschung. Sie hätte nicht gedacht, dass Michael für sich eintreten würde.
»Du bist ein Nichts. Ein komischer, kleiner, fetter Junge, über den die Leute lachen. Du bist ein Witz.«
»Nein, bin ich nicht«, beharrte Michael. Jenny verspürte eine Welle der Bewunderung. Michael gab nicht klein bei – vielleicht weil er in der Schule aufgezogen und niedergemacht worden war. Er hatte das alles schon einmal gehört.
Aber Julians Gesicht war selbstbewusster denn je – und grausamer. Er ließ ein Lächeln aufblitzen, das Jenny eine Gänsehaut verursachte.
»Lass uns gar nicht erst über die kleinen Rituale reden, die du als Kind hattest«, sagte er zu Michael. »Zum Beispiel dass du das Toilettenpapier in winzige, genau gleiche Stücke reißen musstest. Oder dass du, wenn du das Wort Tod gesehen hast, bis achtzehn zählen musstest. Bis zum hebräischen Wort chai, das mit dem Zahlenwert 18 verbunden ist und ›Leben‹ bedeutet.«
Michaels Brust hob und senkte sich hektisch. Jenny öffnete entrüstet den Mund, aber Julian fuhr bereits fort.
»Kommen wir also gleich zum Kern der Sache. Frag deine Freundin, ob sie dich jemals hinter deinem Rücken ›Dickerchen‹ genannt hat.«
Michael drehte sich zu Audrey um. Jenny konnte sehen, dass seine Abwehr Risse bekommen hatte; sein Gesicht zeigte diesen zerknitterten Ich-will-allein-sein-Ausdruck,
der bedeutete, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde. »Hast du das gesagt?«
In dem purpurnen und blauen Scheinwerferlicht wirkte Audrey blass, ihr Lippenstift stach grell hervor. Auch sie schien den Tränen nahe zu sein.
»Hast du das gesagt?«
»Natürlich hat sie das gesagt«, stellte Julian fest.
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