Die Entscheidung
Mal waren sie noch sehr viel schneller am Ziel. Das hatte aber auch damit zu tun, dass sie jetzt keinen geschwächten Menschen mehr mit sich herumschleppen mussten.
Als sie die alte Hängebrücke passierten, kamen in Darrek unangenehme Erinnerungen auf.
„Das Ding hättet ihr schon vor Jahrzehnten demontieren sollen“, sagte er.
„Warum? Außer euch wäre doch nie jemand auf die Idee gekommen, die Brücke noch zu benutzen. Sieht doch jedes Kind, dass sie absolut unbrauchbar ist.“
„Trotzdem wäre es besser gewesen.“
Aus einem Impuls heraus holte Darrek aus und trat gegen einen der morschen Pfeiler. Dieser gab sofort nach und fiel in die Tiefe. Mit dem anderen wiederholte Darrek dasselbe.
„Wir sollten auch auf der anderen Seite die Spuren der Brücke verschwinden lassen“, schlug er vor. „Das Dorf wird gesucht. Und es wäre auf jeden Fall besser, keine eindeutigen Richtungsweiser anzubringen.“
Einar lächelte, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Er wollte nicht schon wieder mit Darrek aneinandergeraten. Das lohnte sich nicht mehr so kurz vor dem Ziel.
Sie passierten den natürlichen Übergang am Wasserfall und erreichten nicht lange danach das Dorf. Es war bereits seit einiger Zeit dunkel und Darrek musste zugeben, dass er müde war. Doch bevor er schlief, wollte er unbedingt noch Laney sehen. Seine Sorge um sie irritierte ihn.
„Meinst du, sie ist in ihrem Zimmer? Oder sollte ich besser auf der Krankenstation nachsehen.“
Einar schüttelte den Kopf.
„Sie wird in ihrem Zimmer sein“, sagte er überzeugt. „Das Auspeitschen ist bei uns gang und gäbe. Sie müsste schon aus Zucker sein, wenn sie Anisias Hilfe immer noch in Anspruch nehmen müsste.“
Darrek nickte.
„In Ordnung. Danke.“
„Wir sehen uns dann morgen bei meiner eigenen Bestrafung, nehme ich an?“
Darreks Mundwinkel zuckten.
„Sicher. Das werde ich mir doch nicht entgehen lassen.“
Einar lachte herzhaft und Darrek wandte sich dem Haus von Viktoria zu, das inzwischen wohl eher als Gästehaus galt. Er stieg langsam die Treppe hinauf und öffnete dann so leise wie möglich die Tür zu Laneys Zimmer. Und tatsächlich. Sie schlief. Sie lag auf dem Bauch und trug kein Oberteil. Dafür war ihr Oberkörper in Bandagen eingebunden. Kein Blut sickerte hindurch. Das war ein gutes Zeichen. Ihre Verletzungen konnten also nur oberflächlich sein.
Darrek trat näher. Laney wirkte sehr friedlich im Schlaf. Ihr langes schwarzes Haar verdeckte einen Großteil ihres Gesichts, aber Darrek traute sich nicht, es wegzustreichen, aus Angst sie zu wecken. Laney musste schrecklich müde sein. Aber wie sie es versprochen hatte, hatte sie die Bestrafung überstanden. Und Darrek konnte nicht anders, als Bewunderung für sie zu empfinden. Sie hatte ihren Kopf durchgesetzt und war mit ein paar Striemen auf dem Rücken davongekommen. Sturheit zahlte sich also manchmal doch aus.
Ihre Atmung ging ruhig und alles schien in Ordnung zu sein. Es gab keinen Grund sie zu wecken. Alles, was sie zu besprechen hatten, konnten sie auch am nächsten Tag besprechen.
Schlaf gut, Prinzessin. Du wirst deine Kraft noch brauchen.
Darrek warf noch einen letzten Blick auf seine Schutzbefohlene und verließ dann das Zimmer. Er hatte ebenfalls Schlaf nachzuholen. Und genau das würde er jetzt tun.
„Entschuldigung. Mister?“
George murmelte leise vor sich hin und versuchte, die Stimme auszublenden.
„Hallo. Mister. Sie müssen aufwachen. Wir sind da.“
Da? Was meinte die Stimme mit da? Bestimmt sprach sie mit jemand anderem.
„Das Flugzeug ist gelandet, Mister. Sie müssen jetzt aussteigen.“
Unwillig öffnete George ein Auge und erblickte eine hübsche Stewardess. Um ihn herum befanden sich viele leere Flugzeugsitze und er war ganz offensichtlich der Letzte.
„Wo … wo bin ich?“, fragte George völlig orientierungslos.
Warum war er in einem Flugzeug? Wo war er denn hingeflogen?
„Sie sind in Dublin, Mister“, erklärte die Stewardess. „Wo wollten Sie denn hin?“
Sofort atmete George erleichtert aus. Also in Irland. Irland war gut. Da kannte er sich aus.
„Dublin ist super. Aber … Wie bin ich in dieses Flugzeug gekommen?“, hakte er trotzdem nach.
„Das wissen Sie nicht mehr? Im Ernst?“
George schüttelte den Kopf. Dann griff er unwillkürlich nach dem kleinen Kreuz an seinem Hals. Doch es war verschwunden.
„Sie müssen jetzt wirklich aussteigen, Mister. Vielleicht erinnern Sie sich ja wieder daran, was geschehen
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