Die Entscheidung
er das Blut des Säuglings dem ihren vorzog. Wenn sie jetzt davonrannte, dann hatte sie noch eine reelle Chance, dem Monstrum zu entkommen. Der Dämon hatte seine Gabe nicht bei ihr angewandt, weil er es nicht für nötig gehalten hatte. Daher wäre eine Flucht durchaus möglich. Aber diese Option kam für Viktoria nicht infrage. Sie war bereits einmal ihrer Verantwortung davongelaufen und das würde sie kein zweites Mal tun. Zu groß war die Schuld, die bereits auf ihren Schultern lag.
Entschlossen griff sie nach dem Messer an ihrer Seite und schnitt sich beide Arme auf, sodass das Blut über ihre Haut lief. Sie wusste, dass sie das gesamte Dorf durch ihr Handeln in Gefahr brachte. Aber sie musste es trotzdem versuchen. Sollte Mady heute Nacht sterben, so würde sie sich das nie verzeihen.
„Dämon“, schrie sie. „Nimm mein Opfer an. Ich gebe es freiwillig und mein Blut ist jung. In dem Loch wirst du nur Menschen finden. Und Menschenblut ist nicht, was du willst.“
Johannas Herz blieb fast stehen, als sie Viktoria schreien hörte. Sie hatte gedacht, ihre Enkelin wäre zu Swana gegangen. Sie hatte nicht mitbekommen, wie Viktoria das Haus verlassen hatte. Früher wäre ihr so etwas sofort aufgefallen, aber an solchen Dingen zeigte sich wahrscheinlich das Alter. Sofort riss Johanna die Haustür auf und sah, dass der Dämon zweihundert Meter weiter über dem Erdloch hockte. Er hielt das Gitter immer noch in seinen Klauen und schien unschlüssig zu sein, für welches Opfer er sich entscheiden sollte. Der Menschengeruch aus dem Erdloch verunsicherte ihn anscheinend zutiefst.
„Nimm mein Opfer an“, forderte Viktoria erneut, riss ihre Bluse auf und schnitt sich in die Brust.
Der Anblick des Blutes benebelte den Dämon und brachte ihn dazu, seine Entscheidung zu fällen. Er reagierte schnell. Er schoss nach vorne und war mit einem Satz bei ihr. Kräftig biss er in ihren Hals und fing augenblicklich an zu saugen. Viktoria stöhnte vor Schmerz auf, wehrte sich aber nicht.
Ohne darüber nachzudenken, stürzte Johanna aus dem Haus.
„Neeeiiin!“, schrie sie.
„Amma! Nicht!“, rief Einar ihr hinterher und sprang auf.
Doch es war zu spät. Johanna war bereits draußen und humpelte so schnell sie konnte auf Viktoria und den Dämon zu. Aber bevor sie auch nur in die Nähe der Beiden kam, hob der Dämon den Kopf und starrte Johanna an.
Sofort gefror Johannas Körper in der Bewegung. Sie konnte keinen Finger mehr rühren und kein Wort mehr sagen. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde. Sie hatte es bereits mehrfach am eigenen Körper erfahren und häufig genug bei anderen gesehen, die es gewagt hatten, den Dämon anzugreifen. Er hatte eine mächtige Gabe, die es ihm ermöglichte, den Körper und den Geist von allen Dorfbewohnern vollkommen bewegungsunfähig zu machen. Dazu genügte ihm der reine Blickkontakt. Daher waren auch die meisten der Gaben von den Dorfbewohnern in Hinblick auf den Dämon wirkungslos.
Außerdem war das Monstrum klug. Sie hatten mehrfach versucht, ihm Fallen zu stellen oder ihn anderweitig zu überlisten. Sie hatten alles ausprobiert, was man sich nur vorstellen konnte. Niemand konnte sagen, sie hätten sich einfach so in ihr Schicksal ergeben. Aber nichts hatte geholfen.
Eine einzelne Träne rollte Johannas Wange hinunter, während sie beobachtete, wie der Dämon Viktoria zu Boden gleiten ließ. Sie lebte noch, war aber stark geschwächt.
In geduckter, lauernder Haltung kam der Dämon auf Johanna zu. Er erkannte sie. Da war Johanna sicher. Sie hatten einander schon mehrfach gegenübergestanden und jedes Mal hatte er sie verschont. Für Johanna war es jedoch eher so, als hätte er sie verschmäht. Seine roten Augen glühten, als er näher kam, und der Geruch nach altem Leder schlug Johanna entgegen.
Sie hätte ihm am liebsten alle möglichen Schimpfwörter entgegen geschrien und wäre ihm an den Hals gefallen. Aber sie konnte sich nicht rühren. Wenn Johanna Pech hatte, würde der Dämon dank ihr jetzt auch noch das Haus betreten und dort Swana und Einar töten. Und wenn der Dämon sie wirklich bestrafen wollte, dann ließ er sie danach am Leben, damit sie den Schmerz des Verlustes ertragen musste.
Töte mich , flehte sie in Gedanken. Töte mich einfach und lass meine Nachkommen in Ruhe. Dann haben wir es beide hinter uns.
Doch der Dämon zeigte daran keinerlei Interesse. Er schnupperte an ihr, nieste ihr dann mitten ins Gesicht und wandte sich wieder seinem ursprünglichen
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