Die Erben der alten Zeit - Das Amulett (Die Erben der alten Zeit - Trilogie) (German Edition)
fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Wenn ich mir die Haare abschneide, sehe ich aus wie dieser Junge!«, stieß Charlie laut hervor. Sie erschrak vor dem Klang ihrer Stimme in der Stille des Waldes. Beunruhigt warf sie einen schnellen Blick um sich herum. Sie war allein. Natürlich. Sie saß auf einem Baumstumpf mitten im Wald! Auf einem Baumstumpf? Sie wiederholte ihren Gedanken leise für sich selbst:
»Ich würde aussehen wie ein Junge! Keiner würde mich erkennen! Ich habe mich ja selbst nicht mal erkannt! Das im Traum war ich!«
Wie hypnotisiert starrte sie ihre langen Locken an. Niemand würde nach einem Jungen mit kurzen schwarzen Haaren suchen. Man würde sie auf ihrer Wanderung gen Norden zumindest nicht sofort erkennen. Charlie warf die lange Strähne mit einem Schwung nach hinten und begann , in ihrem Rucksack nach dem Messer zu suchen. Dem Messer mit dem Griff aus Horn, welches sie von ihrem Vater Per bekommen hatte.
Es war gar nicht so einfach gewesen! Um sie herum lagen dicke Strähnen ihrer schwarzen Haare, zerzaust und durch die feuchte Nebelluft noch mehr gekräuselt als sonst.
Sie hatte hinten angefangen und sich Strähne für Strähne durch ihr dickes Haar nach vorne gearbeitet. Das Messer war scharf, aber gleichmäßig wie mit einer Schere, bekam sie es trotzdem nicht hin. Die kurzen Locken standen ungleichmäßig in alle Richtungen und ohne es zu wollen, hatte sie links hinten und rechts vorne eine längere Strähne stehen lassen. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen Haare und zog die längeren Locken vorne und hinten durch ihren Finger. Sie griff zum Messer und setzte es im Nacken an. Sie zog die lockige Strähne lang und spürte wie sich das Haar über der Klinge strammzog. Nur ein Schnitt, aber sie zögerte. Sie dachte an ihren Traum und ließ das Messer langsam wieder sinken.
»Nein«, dachte sie.
»Das soll wohl so sein. Ich habe es nicht mit Absicht so geschnitten, und trotzdem ist es so geworden wie in meinem Traum.«
Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hatte keine Angst, aber seltsam war es schon. Viele merkwürdige Dinge waren passiert, seit sie ihre Akte gelesen hatte. Sie konnte es sich nicht erklären, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie auf ihren Traum hören sollte. Also verstaute sie das Messer wieder in dem Rucksack, kratzte den Wust Haare zusammen, der um sie herum zerstreut lag und stopfte ihn in einen Spalt zwischen den Wurzeln des Baumstumpfes. Dann schulterte sie ihren Rucksack und schritt, nach einem letzten sicherstellenden Griff an den Brustkorb, dem schmalen Schotterweg Richtung Torpa entgegen. Sie war am Morgen nur ungefähr 200 m dem kleinen Pfad in den Wald gefolgt. Hinter der nächsten Biegung konnte Charlie den steinigen Weg durch die Nebelschwaden erkennen. Plötzlich schob sich eine extrem dicke Nebelwand vor Charlie auf den Pfad. Vorsichtig trat sie in den Nebel hinein. Nur ein paar Schritte, dann würde sie den Schotterweg direkt vor sich sehen können. Der schwere feuchte Nebel umschloss sie. Undurchdringlich. Er erstickte jedes vorhandene Geräusch. Es war totenstill. Die gewohnten Laute des Waldes, wie das Raus chen der Bäume im leichten Wind oder das Knacken von Zweigen, wenn eine Reh oder Elch den Wildpfad entlang wanderte, all diese Geräusche waren verschwunden. Als hätten sie niemals existiert und würden niemals wieder zu hören sein... Stille.
Charlie hörte ihr Herz dumpf und kraftvoll schlagen. Sie hörte auch ihren eigenen Atem laut und überdeutlich, sowie das Rauschen ihres eigenen Blutes. Der Stein lag schwer und warm auf ihrer Brust. Er schien plötzlich noch wärmer zu werden. Sie ging einen weiteren Schritt vorwärts, setzte den Fuß auf dem weichen Waldboden auf und lauschte. Nichts! Sie nahm noch einen Schritt und stampfte beim Auftreten extra stark auf. Nichts! Kein einziges Geräusch war zu hören! Ihr Herz schlug schneller und sie machte zwei weitere hastige Schritte! Plötzlich riss der Nebel vor ihr auf und das Leben kehrte zurück. Sie konnte Vögel singen hören, das Rauschen und Plätschern eines Baches und das klopfende Hämmern eines Buntspechtes in einem der hohen Bäume über ihr.
Sie trat aus dem Nebel in den strahlenden Sonnenschein! Vor ihr breitete sich eine mit Frühlingsblumen übersäte Wiese aus und am Waldrand graste ein mächtiger , schneeweißer Elch.
Fasziniert starrte Charlie das riesige Tier an. Es gab weiße Elche. Sie hatte davon gehört. Aber gesehen hatte sie
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