Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Brage sie wohl vergessen haben musste, hörte sie wieder Schritte, und jemand öffnete die Haken an ihrer Truhe.
»Warte noch eine Minute bevor du herauskommst«, raunte Brage direkt über ihr. »Euer Einhorn wartet hinter der Halle.«
Dann entfernten sich die Schritte schnell, und Charlie hörte das Schlagen einer Tür.
Stille.
Langsam hob sie den Deckel einen Spalt breit an und spähte in einen kleinen Raum. Er lag im Halbdunkel, und außer vielen Kisten und Körben war nichts zu sehen.
Dann öffnete sie den Deckel ganz. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei und gehorchten ihr nicht. Nur langsam strömte das Leben in ihre Füße zurück, und Charlie stolperte ungeschickt aus ihrem Versteck.
Obwohl sie kaum auf den Beinen stehen konnte, machte sie sich sofort auf die Suche nach Tora und Kunar. Kurz darauf kämpften sich die Geschwister aus ihren Kisten.
»Ich hatte die Kontaktlinse verloren«, flüsterte Tora aufgeregt. »Ich musste mit dem Feuerzeug danach suchen und hätte mich dabei fast selbst in Brand gesteckt!«
»Scht!«, zischte Kunar. »Da kommt jemand!«
Und tatsächlich konnten sie Bures Stimme hören. Sie klang keineswegs herablassend, grimmig oder argwöhnisch, sondern aalglatt und mit einer leichten Schadenfreude im Unterton.
»Ja, mein Herr. Ganz genau«, sagte er. »Es sollte sich um etwas Persönliches handeln. Und dann hat ihm Kapitän Brage für irgendeine Nachricht gedankt.«
Eine andere Stimme erklang – heller und kälter.
»Öffne die Tür! Ich hoffe dein Verdacht ist die Mühe wert. Brage ist ein angesehener Geschäftsmann.«
Charlie, Tora und Kunar standen wie versteinert mitten in dem kleinen Raum. Bevor sie irgendwie reagieren konnten – einen Fluchtweg hätte es ohnehin nicht gegeben – wurde die Tür aufgerissen und Bures grobschlächtiger Körper stand vor ihnen.
Charlie rutschte das Herz in die Hose.
Bure starrte die drei Jugendlichen verblüfft an.
»Was treibt ihr hier? Gesindel!«, rief er.
Er hatte Charlie nicht erkannt. Zum Glück hatte sie im Hafen von Eliborg ihre Kapuze weit ins Gesicht gezogen getragen.
Dann trat ein stattlicher junger Mann herein.
Für einen kurzen Augenblick dachte Charlie, Biarn gegenüberzu-stehen, doch dann sah sie Unterschiede. Der edel gekleidete junge Mann trug seine Haare etwas kürzer als Biarn und sein Gesicht wies wesentlich gröbere Züge auf. Verächtlich blickten seine Augen auf Charlie, Tora und Kunar herab, denen es die Sprache verschlagen hatte.
Charlie schluckte. Es bestand kein Zweifel: Sie standen Lodurs Sohn Heimdall direkt gegenüber.
Das war also Biarns älterer Bruder.
Charlie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie er wohl aussehen mochte, doch mit solch einer Ähnlichkeit hatte sie nicht gerechnet.
»Bure, was geht hier vor sich?«, fragte Heimdall in einem würdevollen, aber gleichzeitig überheblichen Ton.
»Diebe, mein Herr! Plünderer, ihr solltet sie …«, setzte Bure zur Antwort an, doch da trat Kapitän Brages mächtige Gestalt in den kleinen Lagerraum.
Seine Stimme dröhnte kraftvoll und bedrohlich als er sprach – von Unsicherheit keine Spur.
»Was geht hier vor sich?«, fragte er genauso wie Heimdall und fixierte Bure mit seinen Augen.
»Mein Herr!«, grüßte er dann Heimdall sofort mit einem kurzen, respektvollen Nicken.
Bures kleine Augen flackerten unsicher. Man sah ihm seinen Zwiespalt deutlich an. Er war dabei, seinen Kapitän anzuschwärzen, und doch hatte er gerade Diebe in der Halle gestellt. Er entschied sich dafür, sich erst einmal die vermeintlichen Plünderer vorzunehmen, um sich damit Kapitän Brages Gunst zu erhalten.
»Plünderer, mein Herr!«, wetterte Bure los. »Auf frischer Tat ertappt!«
Brage sah sich erstaunt in dem dunklen Raum um. Dann lächelte er einschmeichelnd.
»Ich bedaure dieses Missverständnis, das euch hierher geführt hat, mein Herr«, sagte er zu Heimdall. »Diese drei Kinder arbeiten heute für mich. In einem Anflug von Barmherzigkeit versprach ich diesen armen, halb verhungerten Wesen einen Laib Brot, wenn sie für mich die Körbe dort zum Arnoldshof schaffen.«
Heimdall hob seine Augenbrauen.
Charlies Beine fühlten sich an wie Pudding, und vor Anspannung biss sie sich auf ihre ohnehin bereits geschwollene Zunge.
Sie stöhnte leise.
Tora stieß ihr mahnend den Ellbogen in die Seite.
»Die Witwe Anna mit ihren sechs Kindern liegt krank zu Bett und kann ihre Ware leider nicht selbst abholen. Ein Trauerspiel«, fügte Brage hinzu.
Heimdall
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