Die Erben der Nacht 04 Dracas
Offenbach. Wir haben in Paris seinen Orpheus in der Unterwelt gesehen.« In Erinnerung an den Abend mit Bram und seinem Freund Oscar Wilde lächelte Latona versonnen. Bram erwiderte ihren Blick. Wie viel hatten sie in Paris zusammen erlebt. Es war eine aufregende Zeit gewesen, die sie für immer verband, ob das Latona nun gefiel oder nicht. Bram war ein Teil ihres Lebens
geworden. Er hatte den Platz ihres Onkels eingenommen und stand ihr jetzt schon näher als Carmelo, der sie all die Jahre immer ein wenig auf Abstand gehalten hatte.
Philipp betrachtete die beiden mit einem Ausdruck von Eifersucht. »Die Premiere gestern soll ein großer Erfolg gewesen sein«, drängte er sich wieder in Latonas Bewusstsein. »Die Kritiken sind sehr gut. Ich habe heute Morgen schon in der Zeitung nachgesehen. Wir sollten es auf keinen Fall versäumen, wo das Theater nach seiner langen Schließung nun endlich wieder geöffnet hat.«
»Es gibt für heute Abend bestimmt keine Loge mehr«, gab die Baronin zu bedenken. »Wolltest du dich mit unseren Gästen etwa ins Parkett drängen?«
Philipp hob die Schultern. »Nur wenn es nicht anders geht. Es muss doch noch Karten geben. Großmutter, wenn Ihr Eure Beziehungen spielen lasst, dann ist alles möglich!«, schmeichelte er der alten Baronin, die für den Charme ihres Enkels durchaus empfänglich war.
»Lass mich nachdenken -, die Liebens haben sich für heute eine Loge gemietet, doch ich denke nicht, dass sie hingehen werden. Anna sagte mir bereits gestern, sie fühle sich zu schwach, um in den nächsten Tagen auszugehen. Sie kann wieder einmal seit vielen Nächte nicht schlafen und ist einer ihrer Hysterien nahe.« Die Baronin schüttelte mitleidig den Kopf. »Sie ist eben eine empfindsame Künstlerin, die darunter leidet, dass sie nicht das Leben führen darf, nach dem sie verlangt. Sie hat es bereits mit Hypnose und vielem anderen versucht. Vielleicht kann dieser neue junge Arzt ihr helfen, der sich ganz der Psyche zuwendet. Auch ich denke, es ist kein körperliches Leiden, das Anna quält. Sigmund Freud, glaube ich, heißt er. Sie sagt, er will Studien über die Hysterie anstellen.«
Philipp ergriff an Latona gewandt das Wort. »Wir kennen die Liebens schon lange. Sie geben uns bestimmt ihre Loge. Anna, von der Großmutter gerade sprach, ist eine geborene Todesco. Sie wollte schon immer Malerin werden und niemals eine gesellschaftliche Ehe eingehen. Sie ist brillant! Ich habe einige ihrer Werke gesehen. Porträts, detailliert und lebensnah wie eine Fotografie! Sie ist auch eine überlegene Schachspielerin, der es gelang, große Geister auf
diesem Gebiet zu schlagen. Ich kam mir recht dumm vor, als sie mich einmal in wenigen Zügen matt setzte.« Philipp lachte. »Außerdem schreibt sie Gedichte. Die Vorstellung, das Korsett einer Dame der Gesellschaft zu tragen, war ihr von jeher unerträglich. So floh sie zu ihrer Schwester Fanny nach London, doch ihr Vater holte sie zurück und verheiratete sie mit Leopold Lieben. Eine Weile wohnten sie noch im Palais Todesco neben der Oper, dann zogen sie zu Leopolds Eltern in das Palais an der Ringstraße direkt neben dem neuen Burgtheater, das hoffentlich bald eröffnet wird.
Die Baronin warf ihrem Enkel einen scharfen Blick zu. »Hast du dir vorgenommen, deine Schwester würdig zu vertreten und an ihrer Stelle die Mahlzeiten mit Gesellschaftsklatsch zu würzen?«
Philipp senkte verlegen den Blick. »Verzeihung«, murmelte er. »Ich wollte Latona nur noch erzählen, dass Franz Landtmann unten im Erdgeschoss des Palais ein elegantes Kaffeehaus eröffnet hat. Wiens eleganteste und größte Café-Localität, wie er selber sagt. Und ich wollte vorschlagen, dort einmal hinzugehen.«
Die alte Baronin schmunzelte. Sie konnte ihrem Lieblingsenkel einfach nicht böse sein. Dennoch wechselte sie das Thema. Sie wandte sich an van Helsing.
»Sie verlassen uns schon wieder, habe ich gehört?«
Der Professor nickte. »Ja, ich reise morgen ab. Ich werde hier nicht mehr gebraucht und so nehme ich mit Freude und Interesse den Vorschlag unseres verehrten Professors Vámbéry an, ihn in seine Heimat Ungarn zu begleiten. Genauer gesagt wollen wir in die östliche Provinz nach Siebenbürgen reisen bis in die wilden Karpaten.«
»Das hört sich interessant an«, stimmte die Baronin zu, die zur Kenntnis nahm, dass sich auch ihr anderer Gast mit Reiseabsichten trug.
Nicht nur Latona fiel die Begehrlichkeit in Brams Blick auf. Van Helsing sah zu ihm hinüber
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