Die Erben der Nacht 04 Dracas
sich mit anderen Länder zu beschäftigen.
Ivy hielt die Augen geschlossen. Sie wusste nicht einmal, ob es ihr gelingen konnte, sie zu öffnen. Dennoch hatte sie ein Bild vor Augen, wie Dracula ihr gegenüber saß und sie aus seinen dunkelrot glühenden Augen begehrlich anstarrte. Sie konnte seine Aura fast greifen. Sie witterte auch den Kutscher draußen auf dem Bock. Ein Mensch, kein Zweifel, doch völlig ohne Angst. Hatte der alte Vampir sich durch die Kraft seines Geistes einen willenlosen Diener geschaffen? Oder diente ihm der Mann aus eigenem Antrieb und war so unerschütterlich in seiner Treue, dass die Aura des Meisters ihn nicht ängstigte?
Wenn der Nebel in ihrem Kopf nur nicht so dicht wäre, dann könnte sie klarer denken. So kam es Ivy vor, als sei ihr Kopf mit Watte gefüllt. Sie konnte zwar den Kutscher und die vier Pferde wahrnehmen, die in schnellem Lauf über die Landstraße preschten, doch weiter konnten sich ihre Gedanken nicht entfernen.
Seymour, formte ihr Geist angestrengt und versank dann wieder im Nebel. Wo war er und was tat er im Moment? Wo waren ihre Freunde? Sie konnte sie nicht aufspüren. Wie sollten die anderen sie finden, wenn es ihr nicht gelang, den Geist ihres Bruders zu erreichen?
Sie musste sich Gedanken darüber machen. Pläne schmieden. Ja, später, wenn der Nebel aus ihrem Kopf verschwand und sie wieder klar denken konnte.
Ivy fühlte sich erschöpft wie nie in ihrem Vampirdasein, obgleich es Zeiten gegeben hatte, da sie wochenlang kein Blut zu sich genommen hatte. Auch da waren ihre Kräfte nach und nach geschwunden und ihr Geist hatte an Schärfe und Klarheit verloren. Der Drang nach Blut war stärker geworden und hatte alle kühlen Überlegungen überlagert, doch dies hier war anders. Ihr Geist wurde von einem anderen Geist behindert. Der Fluss ihrer Gedanken blockiert. Wenn es ihr nur gelänge, ihn abzuschütteln!
Dracula bewegte sich. Sie zuckte zusammen, als er seine Hand auf ihr Knie legte.
»Du kämpfst? Ja, ich spüre es. Ich sage dir, mein Kind, du kannst deine Kräfte sparen. Der Trick mit den Fledermäusen war nicht schlecht, doch ich werde keine weiteren Überraschungen zulassen. Ruh dich jetzt aus. Wir werden eine Weile unterwegs sein, bis ich dich in deinem neuen Heim willkommen heißen kann. Du wirst es mögen. Mein Land ist so rau wie der Westen Irlands, wenn auch die Berge höher und schroffer sind und die Schluchten tiefer. Bären und Wölfe streifen durch die düsteren Wälder. Im Winter sind alle Pässe tief verschneit und für Reiter und Karren unpassierbar. Wenn der Schnee schmilzt, schwillt der Argeş an und rauscht donnernd zu Tal. Es ist ein gewaltiger Anblick von den Zinnen der Festung herab. Im Sommer dagegen ist er manches Mal nur ein Rinnsal, das in seinem breiten Kiesbett vor sich hinplätschert. Erzsébet hat diesen Ausblick geliebt. Ja, sie mochte diesen rauen Ort oben auf dem felsigen Grat. Sie fühlte sich in meiner Fluchtburg geborgen.« Seine Stimme wurde plötzlich weich. Er war mit seinen Gedanken weit zurück in die Vergangenheit gereist und zum ersten Mal ahnte Ivy, dass auch der Vater der Vampire Schwächen hatte, die ihm gefährlich werden konnten.
Die Kutsche fuhr dahin. Nur ab und zu spürte Ivy, wie die Räder langsamer wurden und dann kurz verharrten. Eine Zollschranke? Ein Hindernis auf der Straße? Sie wusste es nicht. Die Fenster der Kutsche waren von dichten Vorhängen verschlossen, sodass Ivy
nichts von der Landschaft hätte sehen können, selbst wenn es ihr gelungen wäre, die Augen zu öffnen.
So dämmerte sie vor sich hin, während die Stunden der Nacht verstrichen und der Tag seine ersten Boten sandte.
Es war noch dunkel, als sie eine Stadt erreichten. Das Rattern der Speichenräder bekam einen anderen Klang. Es roch nach dicht beisammen wohnenden Menschen, nach Unrat und einem schmutzigen Fluss. Dann drang der Geruch von Rauch und Kohle in die Kutsche. Ein Dampfkessel zischte.
Wo waren sie und was hatte Dracula vor?
Die Kutsche hielt an. Dracula stieg aus und wechselte ein paar Worte mit seinem Diener, die Ivy nicht hören konnte. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu bewegen, doch der Meister war zu nah und hielt sie mit seinem Geist fest umklammert. Ivy hatte es gerade geschafft, endlich die Augen zu öffnen, als er bereits wieder einstieg. Nein, sein Lächeln auf dem von Grausamkeiten gezeichneten Gesicht war kein Anblick, der ihr Gemüt erfreuen konnte.
»Wo sind wir?«, stieß sie mühsam hervor. Sie
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