Die Erben der Nacht 04 Dracas
großen Brand völlig überfüllten Krankensäle denken, die sie auf ihrem Weg durch das Spital gesehen hatte. Die wenigen Krankenschwestern liefen unermüdlich auf und ab und konnten doch nicht annähernd allen Verletzten gerecht werden. Es war laut, es stank und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Verwandten, die die schmale Krankenhauskost auf besserten oder beim Wechseln von Verbänden halfen. Ärzte waren hier eher selten anzutreffen. Dennoch war es ein großer Fortschritt, dass man überhaupt alle aufnahm, sie ein eigenes Bett bekamen und gepflegt wurden. Wobei die Opfer des Brandes sicher nicht zu den Ärmsten von Wien gehörten - wenn man einmal
von den Bühnenarbeitern absah. Nein, dieses Mal hatte es das Herz der aufstrebenden Bürgerschaft getroffen.
Latonas Gedanken schweiften ab. Warum nur hatte sie versprochen, bei Philipp zu bleiben? Hatte er nicht eine Familie, die ihn umhegte und nicht nur mit ihrem Geld Sorge trug, dass es ihm gut ging? Seine Schwester besuchte ihn und die Eltern kamen, wann immer ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen es ihnen erlaubten. Selbst der alte Baron Friedrich hatte sich bereits von seinem Leibfiaker zum Spital fahren lassen. Am rührigsten war die Baronin, die allerdings noch ein wenig unter Schock zu stehen schien. Sie konnte es nicht verwinden, dass sie ihren geliebten Enkel in solche Gefahr gebracht hatte. Wobei sie natürlich nichts dafür konnte. Wie hätte sie solch ein Unglück vorhersehen sollen?
Nein, die Baronin hatte es nicht ahnen können, manch anderer in der Stadt vielleicht schon, wie Latona den Zeitungsberichten entnommen hatte. Schlamperei, Geldgier und die für die Wiener so typische Einstellung, der Herrgott werde schon seine schützende Hand über sie halten, hatten dieses Unglück herauf beschworen.
Außerdem litt die Baronin darunter, einige ihrer Freunde und Bekannten unter den Toten zu wissen. Dieses Schicksal teilte sie mit vielen Mitgliedern der feinen Gesellschaft. Ja, selbst die Geliebte des Kronprinzen, Mary Vetsera, hatte bei dem Brand ihren Bruder Ladislaus verloren.
Latonas Gedanken verließen Wien und machten sich auf die Reise nach Osten. Ach, was würde sie dafür geben, nun im Zug bei Bram und den beiden Professoren zu sitzen und mit vor Aufregung klopfendem Herzen ihrem Ziel entgegenzueilen. Was hatte sie hier in Wien noch verloren? Malcolm war daheim in London und seine Freunde waren ebenfalls auf dem Weg nach Siebenbürgen, um diese Vampirin aus den Klauen des großen Meisters zu befreien. Latona hatte das Gefühl, dass es nicht richtig war, hier müßig in Wien zu sitzen, während die anderen sich in Gefahr begaben. Was Carmelo wohl sagen würde, wenn er sie hier sehen könnte? Würde er sich voll Verachtung abwenden und denken, seine Nichte sei feige und bequem geworden?
Aber nein! Sie hatte sich doch nur Brams Drängen gebeugt, der
sich weigerte, sie mitzunehmen. So lange hatte sie schon nach einer Gelegenheit gesucht, sich für eine Weile seiner Aufsicht zu entziehen, und nun, da sie es erreicht hatte, wünschte sie sich nichts mehr, als im Augenblick an seiner Seite zu sein, statt hier bei Philipp im Spital, der sie nicht einmal brauchte. Ihm fehlte es an nichts!
Nachdem sich Philipp lange genug an ihrem Anblick erfreut hatte, riss er sie aus ihren Gedanken.
»Wie ich sehe, hast du die Neue Freie Presse mitgebracht. Was schreiben sie über den Brand?«
»Eine ganze Menge«, antwortete Latona und faltete das Blatt auseinander. »Die ersten drei Seiten sind voll von Schuldzuweisungen und Dementi, aber auch Trauer um die Opfer und Versuche, den Hergang zu rekonstruieren. Der Fall Clarissa von Todesco, der die Schlagzeilen der vergangenen Tage beherrscht hat, ist bis auf Seite vier nach hinten gerückt. Wobei es darüber nichts Neues zu berichten gibt. Sie ist spurlos verschwunden. Niemand hat das Mädchen gesehen und es wurde noch immer keine Leiche gefunden. Wenn man ein wenig zwischen den Zeilen liest, begreift man, dass die Polizei keine einzige Spur hat.«
»Am Ende ist sie doch mit ihrem Liebsten weggelaufen und hält sich vielleicht nicht einmal mehr in Österreich auf«, vermutete Philipp.
Latona hatte da noch einen anderen Verdacht, den sie allerdings nicht mit Philipp teilen würde. Bram könnte sie es erzählen oder auch den Professoren. Latona unterdrückte einen Seufzer. Dass sie ihn gleich so vermissen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Bei all ihrem Widerstand gegen seine ungefragte
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