Die Erben der Nacht 04 Dracas
ihr sogleich
die Wahrheit offenbaren? Nur wenige Mädchen waren mit Vampiren so vertraut wie Latona! Was man ihm vorwerfen konnte, war, dass er seine Kraft, sich zu beherrschen, falsch eingeschätzt hatte.
»Was denkst du? Warum schweigst du jetzt?«, setzte Clarissa nach.
»Ich meine, du solltest tief in dich gehen und sehen, ob die Gefühle, die du für Luciano empfunden hast, noch da sind. Wenn du ihn noch liebst, dann gib ihm eine zweite Chance, denn vielleicht waren es nur seine Jugend und seine wilde Natur, die ihn die Beherrschung verlieren ließen. Er wollte dir keinen Schaden zufügen.«
Clarissa beugte sich vor und sah Latona mit weit aufgerissenen Augen an. »Aber was hat er sich dabei gedacht, als er davon sprach, mich mit zu seiner Familie nach Rom zu nehmen? Hat er etwa geglaubt, ich könne als Mensch unter Vampiren leben? Du schüttelst den Kopf. Das bedeutet, dass er schon damals vorhatte, mich zu einem der ihren zu machen!«
»Sprich mit ihm, wenn er zurück ist. Lass es ihn erklären. Er wollte es sicher nicht ohne dein Wissen und gegen deinen Willen tun - zumindest Malcolm würde nicht so handeln. Ich kenne deinen Luciano nicht. Ich kann seinen Charakter nicht beurteilen.«
Clarissa hob die Arme und ließ sie dann wieder fallen. »Wenn er wenigstens hier wäre und ich ihm all die Gedanken, die mich quälen, ins Gesicht schreien könnte. Aber er zieht es vor, nach Siebenbürgen zu reisen, um ein anderes Mädchen zu erretten. Mich lässt er in all dem Schmerz alleine. Und ich sage dir, egal, was du in deinem Leben schon erlitten hast, was Schmerz ist, weißt du erst, wenn du dich verwandelst!«
Den letzten Teil verdrängte Latona schnell. Über die Schmerzen, die sie erwarteten, wenn sie Malcolms Ruf folgte, wollte sie lieber nicht nachdenken. Sonst verlor sie womöglich den Mut. Der erste Teil lockte allerdings ein Lächeln auf ihre Lippen.
»Ich wüsste nicht, was es darüber zu spotten gibt«, sagte Clarissa böse.
»Oh nein, du missverstehst mich, ich spotte nicht. Aber ich höre Eifersucht aus deinen Worten. Rührt ein Teil deines Zorns auf
Luciano vielleicht daher, dass du argwöhnst, er könne Gefühle für Ivy empfinden, die du alleine für dich beanspruchst? Dann kann ich dich beruhigen. Alisa, Franz Leopold, Ivy und Luciano sind Freunde, die füreinander einstehen. Deshalb ist er jetzt fort, um Ivy zu retten. Ich finde, das spricht für seinen Charakter. Dazu sind Freunde da, dass sie sich immer und überall aufeinander verlassen können! Denke darüber nach, ehe du ihm seine Treue und seinen Mut zum Vorwurf machst.«
Clarissa schwieg und ihre Züge glätteten sich. Sehnsucht schwang in ihrer Stimme, als sie endlich wieder sprach. »Ich würde mich ja gerne mit ihm aussprechen, wenn er nur endlich zurückkehrte.«
Sie stießen beide einen Seufzer aus. »Geduld ist auch nicht meine Stärke«, gab Latona zu. »Aber ich fürchte, im Moment ist das unser beider Schicksal.«
Wieder dachte Clarissa eine Weile nach. Ihre Stirn legte sich in Falten und glättete sich wieder. »Weißt du, was ich seltsam finde? Dass hier zwei Vampire, ein Werwolf und ein Mensch so friedlich, ja wie in Freundschaft zusammensitzen, ohne dass etwas Schreckliches passiert. Obgleich ich zugeben muss, dass mich der Geruch deines Blutes durcheinanderbringt und mein Hunger stetig zunimmt.«
Latona erhob sich. Draußen schlug schon die Domuhr die nächste Stunde. »Dann gehe ich jetzt lieber, ehe ich dich zu etwas verleite, was du eigentlich nicht möchtest - und ich offen gestanden auch nicht!«
Clarissa sprang auf und streckte den Arm nach ihr aus.
»Latona, kommst du wieder? Ich bitte dich. Ich habe das Gefühl, du verstehst mich. Du bist nun meine einzige Freundin, mit der ich offen sprechen kann.«
Latona nickte. »Ja, ich komme wieder, sobald mir eine neue Ausrede einfällt. Und dann bringe ich Seymour einen schönen, blutigen Rinderbraten mit.«
Der Werwolf zeigte seine spitzen Zähne. »Eine gute Idee!«
Am Morgen änderte sich die Landschaft unter ihnen. Die Ebene wurde welliger, die Bodenwellen zu Hügeln und schließlich zu Bergen. Die drei Erben wussten nicht, wo sie sich befanden, doch immerhin lag das ungarische Tiefland nun endgültig hinter ihnen. Vermutlich hatten sie die Grenze des ungarischen Stammlandes bereits überflogen und befanden sich am Rand von Siebenbürgen oder Transsilvanien - dem Land jenseits der Wälder.
Alisa versuchte noch einmal Kontakt mit dem führenden Abendsegler
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