Die Erben der Nacht 04 Dracas
mit ihr eine neue Blutlinie zu gründen? Um Vampire zu zeugen, die den alten Clans überlegen waren durch das in ihr vereinte Blut der Druiden, der Werwölfe und der alten Vampire Irlands, die es schon zu Vlad ţepeş’ Lebzeiten gegeben hatte? Es war verrückt und abscheulich. Nein, diesen Plänen würde Ivy nicht dienen. Eher würde sie sich im Schein der aufgehenden Sonne von den höchsten Zinnen der Festung in die Schlucht des Argeş stürzen! Das Bild einer schönen, jungen Frau tauchte vor ihr auf, das Gesicht in Verzweiflung verzerrt. Sie kletterte auf die grauen Steinzinnen, hob die Hände zum Gebet und warf noch einen letzten Blick in den morgenlichten Himmel. Dann sprang sie.
Verblüfft hielten Ivys Gedanken bei diesem Bild inne. Wessen Erinnerung war das? Nicht ihre eigene jedenfalls. Nein, so wollte sie nicht enden. Ehe sie sich geschlagen gab und ihr Dasein mit eigener Hand beschloss, wollte sie kämpfen und nichts unversucht lassen, sich aus Draculas Griff zu befreien.
Zaghaft tasteten ihre Gedanken weiter. War sie dabei auf sich alleine gestellt oder konnte sie auf Hilfe hoffen?
Ivy forschte nach Seymour. Sie war es gewohnt, seinen Geist auch über große Entfernungen hinweg zu finden und sich mit ihm
zu verbinden. Sie ließ ihre Gedanken wandern. Es überraschte Ivy nicht, ihn nicht in ihrer Nähe zu spüren, dennoch schmerzte es sie. Wie tröstend wäre es gewesen, ihn bei sich zu haben. Aber vielleicht war es gut für ihn, nicht in Draculas Reichweite zu sein. Der Meister hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass er nicht zögern würde, Seymour zu töten, sollte er ihm in die Quere kommen.
War er noch in Wien? Ivy versuchte sich darauf zu konzentrieren. Ihre Gedanken flogen weit zurück über die Lande, bis sie die prächtige Hauptstadt der Habsburger erreichten. Sie streifte den vertrauten Geist. Doch was war das? Er war schwach und litt Schmerzen. Er lag in seiner menschlichen Gestalt in einem Bett, sein Bein dick verbunden. Was war nur geschehen, nachdem sie ihn fortgeschickt hatte?
Seine Erinnerungen verbanden sich mit den ihren. Flammen schlugen über ihr zusammen. Dichter Qualm drang ihr in die Lunge und raubte ihr den Atem. Sie keuchte und hustete. Die Hitze um sie kräuselte ihr Haar. Sie sah Alisa, Luciano und Franz Leopold mitten in der Flammenhölle. Sie hörte Menschen in Todesangst und Schmerz schreien. Was um alles in der Welt war in Wien geschehen?
Ivy!
Ja, ich bin hier, antwortete sie ihm. Was ist nur passiert? Ich konnte das Feuer sehen und deine Qualen spüren. Was ist mit unseren Freunden? Sie waren dort. Seymour, was ist geschehen?
Der Schatten ihr gegenüber bewegte sich. Wie eisige Finger griff sein Geist nach ihren Gedanken und kappte die Verbindung zu ihrem Bruder.
»Ah, meine Schöne ist erwacht und hat sofort ihren Geist in die Ferne schweifen lassen. Nein, wie ungezogen!«
Ein heißer Strahl flammte in ihrem Inneren auf und der Schmerz ließ Ivy unwillkürlich aufschreien.
»Wenn es nicht sehr schmerzhaft für dich werden soll, dann musst du dir eines merken: Schon zu meinen Lebzeiten war mein Motto ›Mein Volk muss mich nicht lieben, es muss mich fürchten - so sehr, dass es mir bedingungslos die Treue hält.‹ Vergiss das nie.
Nichts ist schlimmer als Verrat. Nichts verfolge ich erbarmungsloser! Manches Mal dauert es, bis mir das rechte Mittel in die Hand gegeben wird. Dann warte ich, mein Ziel vor Augen. Ich warte geduldig, bis meine Zeit gekommen ist, die Strafe zu vollstrecken. Gnade gibt es nicht. Merke dir, Ivy, ich vergesse und verzeihe niemals.«
SCHÄSSBURG
Ármin Vámbéry breitete eine Landkarte auf dem freien Sitz neben ihnen aus.
»Morgen Abend erreichen wir Schäßburg. So weit ich informiert bin, haben wir einige Stunden Zeit, ehe der Zug weiter nach Kronstadt fährt, wo wir ihn dann verlassen und uns nach einer Kutsche umsehen müssen. Wir haben also Zeit, uns das Städtchen Schäßburg oder Sighişoara, wie es jetzt heißt, anzusehen, was Sie interessieren müsste, Mr Stoker.«
»Weshalb?« Bram setzte sich auf. Er war ein wenig in seine Träumereien abgedriftet. Ivys Bild stand ihm so deutlich wie lange nicht mehr vor Augen. Es war verrückt, absolut verrückt, und dennoch wäre er in diesem Augenblick bereit gewesen, ihr alles zu schwören. Alles zu geben, um sie aus den Händen Draculas zu befreien.
Alles? Was war das schon?
Nun ja, immerhin hatte er mit Vampiren bereits einige Erfahrung gesammelt. Doch konnte er deshalb
Weitere Kostenlose Bücher