Die Erben der Nacht 04 Dracas
witternd vor jeder Tür stehen. Endlich, im rückwärtigen Teil des Palais fand er, was er gesucht hatte. Das war unverkennbar ihr Duft. Nur noch diese Tür trennte ihn von Clarissa. Er zweifelte nicht daran, dass sie sich in ihrem Zimmer befand. Der Geruch war zu stark, als dass es sich um eine alte Fährte hätte handeln können. Ein Schlüssel steckte im Schloss. Vorsichtig senkte er die Klinke ein wenig. Die Tür war versperrt. Clarissa war eingeschlossen!
Doch war sie auch alleine?
Sorgfältig prüfte er alle Spuren, die er aufnehmen konnte. Da waren zwei Frauen, die sich öfters in den Gemächern auf hielten. Die eine war Liesgret, die andere kannte Luciano nicht, vermutete aber ebenfalls eine Bedienstete des Hauses. Luciano vergewisserte sich, dass sie sich im Augenblick nicht hinter der Tür auf hielten, ehe er sich weiteren Duftnoten zuwandte.
Ihre Mutter war vor Kurzem hier gewesen. Der Geruch des Vaters war wesentlich schwächer. Vermutlich einige Tage alt. Und dann war da noch ein fremder Mann, der vermutlich mehr als zweimal
die Schwelle überschritten hatte. Luciano runzelte die Stirn. Er hatte einen ganz eigenen Geruch, der nicht zu dem der Familie passte. Und da waren noch andere Duftnoten in der Luft, die ihm nicht gefielen. Dämpfe von Mixturen, die nicht zu diesem Haus passten. Was hatte das zu bedeuten? Er musste es erfahren!
Kurz überlegte er, ob er anklopfen sollte, doch da sich gerade in diesem Augenblick am anderen Ende eine Tür öffnete und ein junger Mann in Livree auf den Flur trat, drehte Luciano den Schlüssel um, schlüpfte ohne sich anzumelden ins Zimmer und schloss die Tür genauso geräuschlos hinter sich.
Reglos blieb er stehen. Nur sein Blick huschte umher. Das war also ihr Reich. Der Schein einer Kerze erhellte das geschmackvoll eingerichtete Schlafgemach, das von dem breiten Bett mit dem rosenfarbenen Baldachin beherrscht wurde, zwischen dessen Laken er eine Gestalt erahnen konnte. Rechts neben einem hübschen Damensekretär führte eine Tapetentür ins Ankleidezimmer, wo vielleicht Liesgret schlief. Im Moment jedenfalls war sie nicht da. Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen, die vom Bett her kamen. Zögernd trat Luciano einige Schritte näher. Er musste sich zwingen, stehen zu bleiben und nicht einfach zu ihr zu stürzen.
Da lag sie und schlief. Ach, wie wunderschön, wie engelsgleich, wie verletzlich.
Er runzelte die Stirn. Ja, verletzlich. Unnatürlich blass schien sie und abgemagert, die Wangen eingefallen. War sie etwa krank? Der Geruch des fremden Mannes fiel ihm ein und die anderen seltsamen Duftnoten. Ein Fläschchen auf ihrem Nachtkasten, neben dem ein Löffel lag, zog seinen Blick an.
Ein Arzt und die Medizin, die er verschrieben hatte? Ein Stärkungsmittel aus verschiedenen Kräutern? Ja, das war die Erklärung. Sie war plötzlich erkrankt. Deshalb hatte sie nicht mehr zu ihrem Treffpunkt kommen können. Ein Stein fiel ihm vom Herzen.
»Clarissa«, flüsterte er. Doch dann stutzte er. Warum hatte man ihre Tür verschlossen? Sicher nicht, um jemand daran zu hindern, zu ihr zu gelangen. Dann hätte man den Schlüssel nicht außen stecken lassen.
Warum aber eine Kranke, die so schwach und zerbrechlich wirkte wie Clarissa, in ihr Zimmer einschließen?
Das Mädchen regte sich. Es stöhnte und drehte sich von einer Seite zur anderen. Die seidige Bettwäsche rauschte. Er sah, wie sich ihre Lider öffneten und ihr Blick träge umherglitt, bis er unvermittelt auf der Gestalt verharrte, die hier absolut nichts zu suchen hatte. Nun blieb Luciano nichts anderes übrig, als zu handeln.
Mit einem Schrei fuhr Clarissa hoch. Doch der Laut verhallte kaum hörbar in Lucianos Hand. Er fühlte, wie ihr Körper sich versteifte. Mit entsetzensstarrem Blick sah sie zu ihm auf.
»Clarissa, bitte schrei nicht. Ich wollte dich nicht erschrecken. Du musst mir glauben. Du hast nichts von mir zu befürchten, das schwöre ich. Also sei bitte still.«
Sie nickte schwach. Luciano ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Clarissa sank wieder in ihre Kissen. Ob der Schreck oder die Krankheit sie so geschwächt hatte, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte, vermochte er nicht zu sagen.
»Luciano«, hauchte sie und ihre Wangen bekamen sogar einen Anflug von Farbe. »Du bist gekommen. Ich dachte, ich würde dich niemals wiedersehen. Ich dachte, ich müsste sterben.« Eine Träne glänzte in ihrem Augenwinkel. Unwillkürlich trat Luciano wieder ans Bett heran und ergriff ihre
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