Die Erben der Nacht 04 Dracas
dies ganz und gar nicht zutraf. Nicht weit von hier in der Augustinergasse besaß die Gräfin Elisabeth Báthory ein Stadthaus, in dem sie am helllichten Tag und bei geöffnetem Fenster junge Mädchen folterte und tötete, um anschließend in ihrem Blut zu baden.«
»War sie ein Vampirin?«, wollte Rowena wissen.
»Nein, nur ein Gräfin, die auf ewig jung und schön sein wollte und die glaubte, das Blut von Jungfrauen würde ihre Haut zart und rein halten. Mehr als dreihundert Jungfrauen aus dem Volk gaben ihr Leben für diesen Wahn.«
»Und sie wurde dafür nicht verhaftet und bestraft?«, fragte Alisa ungläubig.
»Nein, jahrelang wurde sie nicht behelligt, obwohl ihr Treiben in weiten Kreisen und auch bei Hof bekannt war. Man drückte alle Augen zu. Nur die Augustinermönche vom Kloster gegenüber beschwerten sich eines Tages. Allerdings nicht über die Tatsache, dass sie die Mädchen mordete, sondern darüber, dass sie es bei offenem Fenster tat! Der Lärm störte ihre Gebete.« Die Tanzmeisterin zeigte ihre Zähne, die Erben sahen einander verwundert an.
»Manches Mal ist es schwer, die Menschen zu verstehen.«
Konstanze nickte Ivy zu. »Ja, und deshalb ist das Fest morgen
eine Art Generalprobe für euch, ehe wir euch alle mit hinaus zu den Veranstaltungen der Wiener Gesellschaft nehmen.«
»Ist die Gräfin bis zu ihrem Lebensende damit durchgekommen?«, bohrte Alisa nach, die sich schwer damit tat, die Geschichte zu glauben.
Die Tanzmeisterin schüttelte den Kopf. »Nein, im Dezember 1610 wurden ihre Burgen gestürmt und durchsucht, die Gräfin verhaftet. Ihr wurde der Prozess gemacht. Mehr als dreihundert Morde legte man ihr zur Last, verurteilte sie aber nicht zum Tode. Sie wurde in ihrem Turmgemach eingemauert und lebte noch einige Jahre. Warum erst so spät, werdet ihr euch fragen. Nun, die Antwort ist in der hohen Politik zu suchen, wie so oft. Ihr Oheim war Stephan Báthory, der regierende polnische König, und dessen Unterstützung benötigten die Habsburger zur Bekämpfung der Türken, die wieder einmal in Wien einzufallen drohten. Mit so jemandem verscherzt man es sich nicht wegen ein paar Jungfrauen aus dem Volk, die keine Familie haben und die niemand vermisst. Vielleicht ist das ein gutes Beispiel, wie die Gesellschaft der Menschen funktioniert.«
Darüber mussten die Erben erst einmal nachdenken, während Konstanze auf die Details des bevorstehenden Abends zu sprechen kam.
»Je weiter die Nacht fortgeschritten und je mehr Champagner geflossen ist, desto einfacher wird es, nicht aufzufallen«, erklärte sie. »Die erste große Hürde stellt jedoch das Bankett dar, bei dem man geschickt verbergen muss, dass man weder isst noch trinkt.«
Sie verriet noch einige Tricks und gab den Erben die letzten Anweisungen, dann entließ sie die jungen Vampire und scheuchte sie aus dem Ballsaal, wo die Servienten noch letzte Hand an den Blumenschmuck anlegen mussten.
Alisa zog sich in den Fechtraum zurück, nahm sich einen Degen von der Wand und ließ die Klinge durch die Luft zischen. In Gedanken war sie nicht bei dem bevorstehenden Fest, obwohl sie sich in jeder anderen Nacht darauf gefreut hätte. Sie dachte auch nicht mehr an die Spuren der fremden Vampire in der Michaelergruft. Ihre Gedanken wurden von etwas anderem beherrscht. Von
Franz Leopolds unglaublichem Verrat! Ein wenig bereute sie, dass ausgerechnet dieser Versuch, die Gedanken eines anderen Vampirs zu lesen, funktioniert hatte, aber sie hatte so darauf gebrannt, die ganze Wahrheit zu erfahren, dass sie der Versuchung nachgegeben hatte und in Lucianos Geist eingedrungen war. Und nun stand sie da mit diesem Wissen, das sie vor Zorn krank zu machen drohte. Leo konnte nur von Glück sagen, dass sie sich im Palais Todesco noch nicht der Tragweite seines Verrats bewusst gewesen war!
Wie hatte er dies nur tun können? Ja, er war ein Dracas und sie wusste seit Langem, dass die Mitglieder dieses Clans abscheulich waren. Und dennoch hatte sie sich immer öfters der Hoffnung hingegeben, Leo könne sich geändert haben.
Sie war so wütend, dass sie meinte, gleich platzen zu müssen. Die Klinge zischte durch die Luft. Mit grimmiger Miene jagte Alisa einen unsichtbaren Gegner durch den Saal.
Die Tür klappte. »Ach, hier bist du. Ivy sucht dich.«
Alisa fuhr herum und starrte Franz Leopold an. »Ja, hier bin ich und ich stelle mir gerade genüsslich vor, wie ich dir meine Klinge durch dein falsches Herz bohre.« Sie machte einen Ausfall in seine
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