Die Erben der Nacht - Pyras
Lüge!, erklang Franz Leopolds Stimme in ihrem Kopf. Aber eine edle Lüge der Freundschaft. Ich bin wirklich gerührt!
»Und was machen wir jetzt?«, drängte Tammo, der es müde wurde, sich immer neue Ratten zu suchen, nur um sie bei der ersten Ablenkung wieder zu verlieren. Dass Fernand und Joanne grinsend danebensaßen und ihre Ratten tanzen ließen, machte die Sache nicht gerade besser.
»Wir werden nun Übungen zur Orientierung machen«, gab Sébastien Auskunft.
»Dass wir uns hier unten nicht verlaufen? Haltet ihr uns für stumpfsinnige Menschen, die nach drei Schritten nicht mehr wissen, wo hinten und wo vorn ist? Wir sind Vampire. Wir verirren uns nicht!«
Sébastien zeigte so etwas wie ein Lächeln. »Das war eine lange
Rede, Tammo de Vamalia, daher schlage ich vor, du fängst an und zeigst uns, wie einfach das alles ist.«
Tammo erwiderte den Blick mit Misstrauen und trat vorsichtshalber zwei Schritte zurück, doch das nützte ihm nichts. Sébastien hob einen Sarg auf, als sei er eine Papierschachtel, und stellte ihn Tammo zu Füßen.
»Leg dich hinein«, befahl er. Tammo blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Der Deckel schlug zu.
»Und was jetzt?«, drang seine Stimme dumpf durch das Holz. Auch die anderen sahen einander fragend an. Was hatte Sébastien mit Tammo vor?
Das sollten sie gleich erfahren. Der Pyras winkte die beiden Servienten heran. Gaston und Jolanda hoben den Sarg auf.
»So, Tammo, wir werden nun den Sarg umhertragen, und du wirst uns genau sagen, in welche Richtung und wie weit er bewegt wird. Beschreibe den Weg, so gut es geht. Sage uns, wie viele Fuß oder Meter du dich nach Westen, Norden, Süden oder Osten bewegt hast und wie weit hinauf oder hinunter.«
Falls sich Tammo noch der Illusion hingab, die Aufgabe würde einfach zu lösen sein, so wurde er schnell eines Besseren belehrt. Die beiden Pyras gingen mal schnell, mal langsam, hoben den Sarg an oder ließen ihn fast auf dem Boden schleifen, trugen Tammo mit dem Kopf voraus, dann seitlich oder mit den Füßen nach vorne. Sie hoben ihn in schmale Durchgänge und ließen ihn in einen Schacht hinunter. Dann drehten sie den Sarg dreimal um seine Achse und liefen anschließend eine abschüssige Rampe hinunter. Schnell hatte Tammo jede Orientierung verloren. Ab und zu erkannte er wieder, wo Norden war und in welche Richtung er getragen wurde, ob es hinauf oder hinunterging, aber wie weit weg er von der Höhle der Pyras war, wusste er nicht, und so war er äußerst erstaunt festzustellen, dass ihn die Servienten genau an der gleichen Stelle wieder absetzten, an der er in den Sarg gestiegen war.
»Ich dachte, ich sei einige Hundert Schritte weiter westlich und in einem höher gelegenen Gang«, gestand er und kletterte mit einem Schnauben der Unzufriedenheit aus dem Sarg. »Das Ganze war auch
nicht gerecht«, beschwerte er sich bei Sébastien. Seine Scheu gegenüber dem wild aussehenden Pyras hatte er offensichtlich verloren.
»Warum nicht?«
»Weil man das gar nicht schaffen kann.«
»Nein?«
»Nein!«, rief Tammo und stampfte zur Bekräftigung mit dem Fuß auf.
»Gut, dann wollen wir es Fernand versuchen lassen.«
»In Ordnung, aber seine Ratte muss mit in den Sarg«, verlangte Tammo.
»Wie du befiehlst.« Sébastien grinste breit und auch Fernand schien der Aufgabe wegen nicht bange zu sein. Wieder schlossen die Servienten den Deckel und trugen den Sarg kreuz und quer durch das unterirdische Labyrinth des fünften und dreizehnten Arrondissements, wie Steingravuren an diversen Kreuzungen verrieten. Ab und zu war Fernands gedämpfte Stimme zu hören, wenn er mit unglaublicher Sicherheit verkündete, an welcher Stelle sie sich gerade befanden. Ivy, die noch dazu die Bilder in seinem Kopf auffing, war beeindruckt, wie exakt sie mit der Wirklichkeit übereinstimmten, die die Vampire im Schein ihrer mitgebrachten Lampe zu sehen bekamen.
»Das ist ja kein Wunder. Er kennt die Gänge, ich nicht«, murrte Tammo. Dennoch musste auch er anerkennen, wie erstaunlich genau Fernand jede Richtungsänderung und jeden Höhenunterschied benennen konnte.
»Halt! Nun sind wir genau an der Stelle, an der ich in den Sarg gestiegen bin«, tönte es aus dem Innern. »Ihr könnt ihn jetzt absetzen.« Die Servienten gehorchten und Fernand klappte den Deckel auf.
»Diese Vorstellung war nicht gerade hilfreich«, maulte Tammo. Fernand sprang mit einem breiten Grinsen aus dem Sarg und klopfte Tammo herzhaft auf den Rücken.
»Verzeih,
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