Die Erben der Nacht - Pyras
Kumpel, ich konnte es nicht über mich bringen, den Verlierer zu spielen. Aber du lernst das schon. Da bin ich mir sicher.«
»Hoffentlich!«, knurrte er.
Nun waren die anderen dran. Sie übten noch bis Mitternacht auf diese Weise, dann brachen sie auf, um ihre neuen Fähigkeiten in
einer anderen Umgebung zu testen. Sébastien, Gaston und Jolanda führten sie weit nach Westen. Die meisten der Erben wurden von ihren Schatten begleitet. Nur Vincent blieb in der großen Halle zurück. Die Pyras hatten sich endlich dazu herabgelassen, die Särge der Erben vom Nordbahnhof abzuholen, und Vincent wollte prüfen, ob seine wertvollen Bücher keinen Schaden genommen hatten.
Die Pyras und ihre Gäste folgten zuerst einem langen, geraden Gang, dann durchquerten sie ein weitläufiges Steinbruchsystem.
»Es ist das größte unter Paris«, sagte Jolanda. »Es zieht sich über das gesamte vierzehnte Arrondissement und noch weit darüber hinaus. Hier üben wir später, wenn ihr gelernt habt, eure Sinne für die Position, in der ihr euch befindet, zu schärfen.«
»Heute Nacht gehen wir auf die andere Seite der Seine nach Passy und Chaillot. Die Gänge dort sind für unsere Übungen gut geeignet«, fügte Gaston hinzu, als sie in einen Abwasserkanal stiegen. »Wir sind jetzt am Rand des Champs du Mars, dem großen Exerzierplatz. Und direkt auf der anderen Seite des Flusses geht es los.«
An dieser Stelle verbreiterte sich der etwas erhöhte Rand des Abwasserleiters zu einem runden Raum, in dem allerlei Reinigungsutensilien lagerten, unter anderem eine schwere Kugel von mindestens zwei Schritt Durchmesser. Auf der anderen Seite verschwand die wassergefüllte Rinne wieder in einem Tunnel, dessen Bett unvermittelt steil hinabführte und das Wasser in die Tiefe stürzen ließ.
Alisa deutete auf die Kugel. »Was ist denn das?«
»Sie nennen sie boule de curage. Damit reinigen sie den Siphon«, erklärte Joanne. »Der Kanal entlässt sein Wasser nicht in den Fluss. Er ist eine geschlossene Röhre, die unter der Seine hindurchführt und auf der anderen Seite in ähnlicher Höhe weitergeht, um das Wasser nach Nordwesten abzuleiten. Es wird erst weiter flussabwärts in die Seine geleitet, damit das Trinkwasser aus dem Fluss in Paris nicht immer durch das eigene Abwasser verschmutzt wird, wie das vor den neuen Kanälen von Baron Haussmann üblich war.«
Tammo beugte sich über die Rinne, in der das rauschende Abwasser verschwand. »Tauchen wir jetzt da hindurch? Das macht bestimmt Spaß.«
»Höllischen Spaß«, murmelte Franz Leopold und zog eine Grimasse.
»Für Seymour ist das nichts«, widersprach Ivy alarmiert. Doch zu ihrer Erleichterung und Tammos Enttäuschung schüttelte Sébastien den Kopf. »Nein, wir nehmen die neue Brücke am Port de l’Alma. Auf der anderen Seite kommen wir ohne Schwierigkeiten hinunter in die alten Steinbruchgänge.«
Sie begannen mit ihren Übungen. Sébastien versammelte sie in einer Kaverne und beschrieb der ersten Gruppe einen Weg, der sie ein Stück durch das Labyrinth und wieder zurück führen würde.
»Der Gang führt genau nach Südwesten, dann an der Kreuzung nehmt ihr den, der auf fünf Schritt einen Fuß ansteigt. An der nächsten Gabelung müsst ihr nach Westen und dann so lange dem Weg folgen, bis ihr an eine Abzweigung kommt, die erst nach Nordwesten und dann - nachdem sie sich ein wenig geneigt hat - mit einer kleinen Abweichung nach Norden führt.«
So ging es weiter, und die Erben beschlich das Gefühl, die Aufgabe könne sich als tückischer erweisen, als sie es für möglich gehalten hatten. Sébastien sandte die Ersten los, ehe er die Nächsten auf einen anderen Weg schickte. Ivy fragte sich, ob der Pyras sich die verschiedenen Routen merken konnte, um später prüfen zu können, ob jemand falsch gegangen war. Jolanda folgte den Ersten in einigem Abstand. Die anderen würde sie später anhand ihrer Spuren kontrollieren. Bald waren alle auf dem Weg. Es stand ihnen frei, es mit einem Partner oder allein zu versuchen. Natürlich standen Joanne und Fernand nicht zur Verfügung, wie Tammo erfahren musste. Sie halfen den Servienten, die Aufgabe zu überwachen. Nach und nach kehrten die ersten Erben zum Startpunkt zurück, einige allerdings blieben verschwunden. Sébastien wartete noch ein wenig, dann ließ er sie suchen.
Während Fernand und Jolanda noch auf dem Weg waren, die verirrten Schäflein einzusammeln, vergab Sébastien die nächste Aufgabe, die noch schwieriger schien.
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