Die Erben der Nacht - Pyras
an.
»Du brauchst ja nicht mitzukommen«, brauste Luciano auf. »Alisa und ich sind jedenfalls sehr daran interessiert, dieses Phantom näher in Augenschein zu nehmen. Er soll ja eine Monsterfratze hinter seiner Maske verbergen, bei deren Anblick jedes zarte Frauengemüt in Ohnmacht fällt. Vielleicht lässt er sich überreden, uns einen Blick darauf werfen zu lassen.«
»Untersteh dich, ihn darum zu bitten!«, rief Ivy, die ausnahmsweise aufgebracht klang.
»Warum denn? Wenn er so außergewöhnlich hässlich ist, dann würde sich das lohnen.«
»Weil ich es nicht dulde, dass du seine Gefühle verletzt!«, sagte Ivy bestimmt.
Die anderen sahen sie an. Luciano verwirrt, Alisa neugierig und Franz Leopold mit aufgesetzter Überheblichkeit.
»Warum kümmerst du dich so um die Empfindlichkeiten eines Ungeheuers, das noch dazu nur ein Mensch ist?«, wunderte sich Luciano.
»Er muss dich ja sehr beeindruckt haben«, murmelte Alisa. Franz Leopold dagegen schwieg und ließ den Blick durch die Höhle schweifen, scheinbar an der Versammlung der Pyras interessiert, die auf der anderen Seite stattfand.
»Ich kann dich nicht zu ihm bringen, wenn du mir nicht versprichst, Erik höflich und mit Respekt zu behandeln«, sagte Ivy streng.
Luciano hob die Achseln. »Ja, gut. Ich versteh nicht, warum du dich für ihn ereiferst, aber wenn es dir so wichtig ist, dann will ich mich daran halten.«
Ivy schien zufrieden. »Gut, dann gehen wir, sobald der Unterricht zu Ende ist.«
Joanne trat zu ihnen. Die letzten Worte hatte sie offensichtlich noch gehört. »Braucht ihr wieder einen Führer? Dann folgt mir. Das wird sonst eine verteufelt langweilige Nacht, wenn sie uns hier wieder alleine zurücklassen.« Sie wandte sich einem der Ausgänge zu, doch Alisa packte sie am Ärmel. »Nach dem Unterricht!«
Joanne grinste breit. »Ich glaube nicht, dass die Lektionen heute stattfinden. Irgendetwas Ungewöhnliches geht vor. Sébastien hat von Patrouillen in den Steinbrüchen weiter westlich unter dem Jardin du Luxembourg berichtet, und Gaston sagt, er habe eine Gruppe Männer in Uniformen gesehen, die, mit Lampen ausgerüstet von den Katakomben herkommend, die Gänge absuchen. So viele Menschen sind lange nicht mehr hier heruntergekommen. Nun hat Lucien J olanda und Claude zu den Gipsbrüchen nach Montmartre und zum Butte Chaumonts geschickt, um zu sehen, wie die Lage dort ist.«
»Wonach suchen sie?«, fragte Alisa.
»Nach uns jedenfalls nicht«, meinte Joanne mit einer lässigen Handbewegung. »Vielleicht sind ihnen wieder einmal irgendwelche Häftlinge entlaufen, die sie nun im Untergrund suchen. Oder irgendeine unzufriedene Gruppe plant eine Revolte und wurde verraten. Die alten Steinbrüche und Abwasserkanäle waren von jeher die Zuflucht der Verfolgten. In der Zeit nach der sogenannten Schreckensherrschaft der Kommune, im Jahr 71, flohen viele ihrer Anhänger hier herunter. Die neue Regierung ließ sie gnadenlos verfolgen und jagen. Unzähliger konnte sie in unseren Gängen und Höhlen habhaft werden. Manche, die vor Erschöpfung bereits kein Gewehr mehr halten konnten, haben sie verhaftet. Viele wurden gleich an Ort und Stelle erschossen und ihre Leichen hier unten gelassen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit Gaston unterwegs war, als wir auf solch eine Todespatrouille trafen, die ein Dutzend Kommunarden gestellt hatte. Der Kampf gegen die Kommune war eine blutige Zeit, daher nennen die Pariser diese Woche auch semaine sanglante. «
Ein altehrwürdiger Pyras, dessen Name sie nicht kannten, den sie aber schon öfter mit dem Clanführer Lucien zusammen gesehen hatten, trat zu ihnen und unterbrach Joannes Bericht. Wie Joanne bereits vermutet hatte, sollte es in dieser Nacht keinen Unterricht geben. Sie sollten alleine an ihrer Technik feilen. Die Pyras hätten in diesen Stunden Dringlicheres zu tun, als sich um die Erben zu kümmern. Die jungen Vampire bemühten sich, nicht zu sehr zu strahlen.
Als würden sie sich zum Üben in die Gänge begeben, verließen
die Erben die Höhle. Erst als sie von ihren Servienten nicht mehr gesehen werden konnten, lief Joanne los. Die anderen folgten ihr. Erstaunlich schnell erreichten sie die Tunnel rechts der Seine, die das Phantom zu seinem Revier erklärt hatte, ohne dass sie von irgendeinem Wesen behelligt worden wären. Allerdings mussten sie dreimal einer Patrouille von jeweils acht Uniformierten ausweichen, die, bewaffnet und mit Lampen versehen, durch die unterirdischen Gänge
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