Die Erben der Nacht - Pyras
das doch endlich auch könnte.«
»Nun, vielleicht werden wir dir in Wien die Grundlagen dieser hohen Kunst beibringen. Doch mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Nur den größten Geistern ist es gegeben, Gedankenflüsse so zu beherrschen und zu leiten, dass es gelingt, lautlos zu kommunizieren. Und nur die wenigsten können gar ungefragt in den Geist eines anderen eindringen, ihm lauschen und ihn beeinflussen.«
»Ach, und zu den größten Geistern zählst du mich wohl nicht, was? Du glaubst, du bist mir geistig überlegen?« Alisa baute sich vor ihm auf.
»Du musst mich nicht niederschlagen, nur weil ich es wage, die Wahrheit auszusprechen«, sagte Franz Leopold kühl. »Körperliche Gewalt ist übrigens eine ganz typische Reaktion bei geistiger Überforderung, wenn verbal keine Argumente mehr vorhanden sind. Sieh dir die Pyras an …«
Henri unterbrach Franz Leopold und zitierte ihn zu sich. Offensichtlich hatte er ihr Gespräch gehört, obwohl er Luciano bei seiner Übung durch die ganze Höhle gefolgt war. Nun schien für ihn der Zeitpunkt gekommen, den Dracas ranzunehmen. Alisa sah ihm nach, empört, keine Gelegenheit mehr zu haben, etwas zu erwidern. Luciano kam sichtlich ausgepumpt, aber erleichtert, dass er den Klauen Henris entkommen war, zu den beiden Vampirinnen zurück.
»Nun, wie war ich? Habt ihr gesehen, wie ich mich angestellt habe?«
Alisa schüttelte den Kopf, doch Ivy nickte anerkennend. »Gar nicht schlecht. Ich habe dir eine meiner Ratten hinterhergeschickt, die mir deine Fortschritte berichtet hat.«
»Hast du jetzt immer einige Ratten unter deinem Befehl, nicht nur bei den Übungen?«, fragte Alisa verwundert.
Ivy nickte. »Aber ja. Ich finde, das haben sich die Pyras schlau ausgedacht und über Generationen zu einer Perfektion gebracht, die man nur bewundern kann.«
»Und du lernst das alles in ein paar Nächten«, grummelte Luciano. »Das ist alles so ungerecht.«
Franz Leopold schlug sich gut und wurde in Gnaden wieder entlassen, während Martine nun Malcolm und Tammo prüfte. Henri trat in die Mitte der Höhle, stützte die Hände in die Hüften und sah sich um.
»Wo zum Teufel bleiben Ghislaine und Chloé? Sie haben versprochen, einige der Erben bei ihren Übungen zu beaufsichtigen.«
Gaston kam zu ihnen geschlendert. »Ghislaine und Chloé? Die habe ich heute Nacht noch gar nicht gesehen. Vielleicht haben sie es vergessen und sind mit den anderen zum Jahrmarkt. Einige wollten sich heute unter die Menschenmenge mischen. Aber ich geh mal runter in die Kaverne nachsehen, ob sie noch da sind«, bot er an und lief leichtfüßig auf die Treppe zu.
Er blieb verschwunden, bis Malcolm und Tammo ihre Übung beendet hatten und Henri gerade Anna Christina und Mervyn aufrief. Als Gaston wieder in der Höhle auftauchte, brach Henri seine Erklärung mitten im Satz ab und fuhr herum, obwohl der Pyras noch kein Wort gesagt hatte.
»Was ist los?«
Auch Ivy reckte sich ein wenig und Seymour knurrte mit gesträubtem Fell. Als Gaston näher trat, konnte auch Alisa erkennen, dass er ungewöhnlich angespannt wirkte.
»Was ist geschehen? Hast du sie gefunden?«, drängte Martine.
»Ja, ich habe sie gefunden«, sagte Gaston und runzelte die Stirn. Nun wirkte er eher verwirrt. »Sie kommen gleich hoch. Sie haben es - ja, vergessen.«
»Vergessen? Ha!«, polterte Martine, und ihre Stimme hallte dröhnend von den Wänden wider. »Sie sind drei Dutzend Jahre jünger als ich, aber ihr Geist ist dem Schwachsinn nahe!« Sie verstummte
und starrte zu dem Torbogen, hinter dem die Treppe in die unteren Ebenen führte. Zwei Altehrwürdige kamen in die Höhle getappt.
»Wir haben den Sonnenuntergang verschlafen«, sagte Chloé blinzelnd.
»Ihr habt was?«, rief Martine fassungslos.
»Das ist ein Scherz«, meinte Luciano. »Man kann den Sonnenuntergang nicht verschlafen!«
»Die beiden sehen nicht so aus, als seien sie zu Scherzen aufgelegt«, wandte Ivy ein. »Nein, ich kann ihre Verwirrung spüren.«
»Schlechtes Blut!«, behauptete Luciano. »Sie haben gestern sicher schlechtes Blut getrunken.«
»Vielleicht waren sie am Pigalle oben«, meinte Joanne, die kopfschüttelnd zu ihnen trat. »Dort sind die Menschen berauscht von Wein oder, noch schlimmer, von Absinth. Das ist uns Vampiren nicht zuträglich, aber die Altehrwürdigen sollten das eigentlich wissen!«
Ähnliche Gedanken schien Sébastien zu hegen, als er kurz darauf auftauchte, um zu sehen, wie die Erben vorankamen. Er schien mit ihren
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