Die Erben der Nacht - Pyras
wissen, mit wem du gesprochen hast! Der Doktor, der dich eingestellt und für heute hierher beordert hat?«
»Aber ja«, rief Latona, deren Gedanken fieberhaft nach einem Ausweg suchten. Sie durfte es nun, da sie einmal im Innern der Mauern war, nicht zulassen, dass man sie sofort wieder wegschickte. »Er hieß, er hieß - ach, jetzt will mir der Name nicht einfallen!«
»Wie sah er denn aus?«, half die Dritte nach, während die alte Schwester ihr einen unwirschen Blick zuwarf. Sie musste Latona für ein einfältiges Ding halten und sich fragen, wer auf den unsinnigen Einfall gekommen war, sie als Krankenschwester einzustellen.
»Er war etwa mittelgroß mit schütterem grauen Haar«, beschrieb sie, in Anlehnung des Mannes, den sie beim letzten Mal durch das Tor hatte kommen sehen. So wie er gekleidet gewesen war und nach der respektvollen Verbeugung des Wächters zu urteilen, konnte er durchaus einer der Ärzte sein.
»Das trifft ja wohl auf eine ganze Reihe unserer Ärzte zu«, brummte die Alte.
»Stand ihm das Haar recht wild vom Kopf und trug er eine Brille?«, half die kleine Brünette weiter, deren breite Aussprache verriet, dass sie aus dem Süden stammte.
»Ja, genau«, rief Latona erleichtert.
»Dann muss das Monsieur le Docteur aus dem Deutschen Reich sein«, vermutete sie. »Hat er denn mit diesem komischen harten Akzent der Deutschen gesprochen?« Latona nickte.
»Dann war es Monsieur Westphal«, rief sie triumphierend. »Ja, ich habe gehört, dass er eine Schwester angefordert hat. Hat er dir gesagt, wie deine Arbeit aussehen wird?«
Da Latona keine Ahnung hatte, was dieser Arzt in der Klinik trieb, schüttelte sie lieber den Kopf.
»Monsieur Westphal betreut die Versuche mit den Ausräucherungsschränken. Du solltest ihm zur Hand gehen, die Patienten während der Behandlung betreuen und die Kammern natürlich auch reinigen und für den nächsten Patienten vorbereiten. Sicher wirst du auch einige Beobachtungen für ihn notieren müssen, denn er will die Wirkung bei möglichst vielen Leidenden studieren. Du kannst doch lesen und schreiben?«
»Aber ja!«, bestätigte Latona ein wenig empört, obwohl ihre französischen Schreibkünste sicher nicht perfekt waren. Englisch und Italienisch beherrschte sie besser.
»Von hier bist du nicht, das hört man«, plapperte die Dunkelhaarige weiter. »Wo kommst du her?«
»Jetzt ist aber Schluss mit dem Geschwätz«, unterbrach sie die Alte barsch. »Bring sie zur Kleiderkammer, dass sie sich eine Schürze anziehen und ihr Haar unter eine Haube stecken kann, und führe sie dann zu Doktor Westphals Studierzimmer!«
Als die beiden jungen Frauen außer Hörweite waren, fragte Latona, was es mit diesen Räucherkammern auf sich hatte. »Ich möchte nicht so dumm vor dem Herrn Doktor dastehen und bisher hat mir niemand etwas erklärt.«
Falls sich die Schwester über ihre Unwissenheit wunderte, so zeigte sie es nicht. »Eigentlich ist das eine alte Methode, die der deutsche Doktor wieder aufnimmt. Wie wohl jeder Arzt weiß, ist der Spanischen Krankheit nur mit Quecksilber beizukommen. Früher haben die Patienten die Dämpfe eingeatmet, doch es ist schon lange bekannt, dass das zu schweren Nebenwirkungen führt. Deshalb wurde es verboten, aber was sonst tun? In Straßburg reiben sie die Haut mit einer Quecksilberpaste ein und es gibt Versuche mit Quecksilberpillen. Monsieur le Docteur Westphal ist der Meinung, dass der Räucherschrank, in dem der Leidende im Quecksilberdampf sitzt,
ihn aber nicht einatmet, die am wenigsten schädliche Darreichungsform ist.«
»Dann hat er sicher viele Patienten«, sagte Latona, während sie sich die Schürze überstreifte und die Haube festband.
»Oh ja, er ist viel beschäftigt. Deshalb will er ja noch eine Schwester an seiner Seite haben. Wobei wir hier im Cochin natürlich auch viele andere Krankheiten zu heilen versuchen.«
»Bei den vielen Patienten sind die Kammern sicher Tag und Nacht besetzt«, vermutete Latona und sah die Schwester aufmerksam an. Diese schien überrascht.
»Nachts? Nein, nachts werden sie natürlich nicht verwendet. Der Doktor ist nachts nicht im Haus«, sagte sie und fügte dann an: »Wobei er in letzter Zeit des Öfteren die Nacht hier verbracht haben soll, um an seinen Aufzeichnungen zu arbeiten. Und ich glaube, unten im Behandlungsflügel wurden neue Experimente durchgeführt.« Plötzlich schien ihr etwas aufzufallen. »Aber warum hat er dich zur Nachtschicht bestellt, wenn es für dich
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