Die Erben der Nacht - Pyras
Clanführer und Sébastien waren unsicher, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Vampire benötigten kein Begräbnis!
»Lasst ihre Überreste in den Särgen und bringt sie in eine andere Höhle. Dort, durch den Gang weiter, öffnet sich nach zwanzig Schritt eine kleine Kaverne. Stellt die Särge da ab.«
Alisa kannte die Höhlung. Sie schätzte, dass man dort zwei Dutzend Särge nebeneinander aufstellen konnte. Würde sich die Höhle nach und nach füllen? Oder bald nicht mehr genug Platz bieten? Wer würden die Nächsten sein? Konnte es nur die Altehrwürdigen der Pyras treffen oder alle anderen auch? Der Gedanke ließ sie schaudern.
»Kommt, lasst uns gehen«, flüsterte sie Ivy und Luciano zu.
Luciano nickte. »Ja, gehen wir hinauf in die große Halle. Der Anblick bereitet mir Magenschmerzen. Mir ist schon ganz schwindelig im Kopf.«
»Das halte ich eher für ein Anzeichen deiner übermäßigen Blutgier«, kommentierte Franz Leopold, der sich ihnen anschloss.
Unterricht gab es in dieser Nacht keinen mehr. Die Vampire saßen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich leise. Auch Alisa, Ivy, Luciano und Franz Leopold hockten auf ihren Särgen und sprachen über die unglaublichen Vorfälle. Malcolm dagegen hatte sich alleine in eine Ecke verzogen. Seine abwesende Miene und das Lächeln auf seinen Lippen ließen Alisa ahnen, dass er nicht an die vernichteten Pyras dachte. Mit einem Ruck drehte sie sich so herum, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte. Es gab Wichtigeres als Malcolm und seine Herzensangelegenheiten!
Grübelnd stützte Alisa das Kinn auf. Was zum Teufel konnte die Altehrwürdigen ausgelöscht haben und warum waren die anderen seit einigen Nächten in einem so schlechten Zustand? Sie brütete, bis es Zeit wurde, die Särge aufzusuchen. Wenn sie Menschen wären, gäbe es unzählige Dinge, die sie dahingerafft haben könnten. Vampire jedoch waren gegen all diese Dinge immun. Oder nicht? War etwas
geschehen, das die Vampire für die Seuchen der Menschen anfällig machte? Oder gab es eine neue Krankheit, die nur Vampire befiel?
Alisa legte sich auf den Rücken und schloss den Deckel über sich. Vielleicht war der Gedanke gar nicht so abwegig. Die Medizin hatte in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Immer mehr Impfstoffe oder neue Heilmethoden wurden gefunden. Mussten sie sich auf diese Erfindungen der Menschen konzentrieren, um die Vampire zu retten? Doch dann fielen Alisa Erik und seine umfangreiche Bibliothek ein. Vielleicht sollten sie sich auch dort noch mal umsehen. Waren in seinen Büchern vielleicht unerklärliche Fälle von vernichteten Vampiren überliefert? Vielleicht handelte es sich doch um eine alte Bedrohung, die in Vergessenheit geraten war.
Damit schwanden ihre Sinne, und sie tauchte in die Welt der tödlichen Schwärze, die sie bis zum Abend umgab.
Latona blieb in einiger Entfernung von der Klinik stehen. Sie tat so, als würde sie ein Taschentuch in ihrem Ridikül suchen, beobachtete aber verstohlen den Eingang. Noch stand die Sonne tief am herbstlich blauen Himmel. Ihr Onkel würde erst später im Schutz der Dunkelheit hierherkommen, wenn er seine Gewohnheiten nicht geändert hatte. Zumindest gab es kaum mehr eine Nacht, die er nicht außerhalb des Hotels zubrachte. Obwohl ihre Zimmer durch eine Verbindungstür getrennt waren, bekam es Latona sehr wohl mit, dass er stets erst in den frühen Morgenstunden zurückkehrte. Außerdem hatte er sich angewöhnt, das Frühstück zu versäumen und erst zum Mittagsmahl zu erscheinen, um danach den Nachmittag mit seiner Nichte zu verbringen. Er führte sie aus, nicht nur in die Menagerie. Carmelo hatte sie in den vergangenen Tagen auf den Jahrmarkt begleitet, zu einer Kutschfahrt durch den von den vornehmen Mitgliedern der Pariser Gesellschaft bevorzugten Bois de Boulogne mitgenommen oder in den volkstümlichen Bois de Vincennes, hatte die frühen Vorstellungen des Kabaretts besucht, des Varietés oder eine der umjubelten Operetten Offenbachs. Er ging sogar mit ihr einkaufen, blieb geduldig, wenn sie sich in einer
der schönen Boutiquen zwischen zwei Hüten oder mehreren Paar Handschuhen nicht entscheiden konnte, kaufte ihr Maroni und Zuckermandeln. Er war geradezu verdächtig großzügig!
Sie wohnten immer noch in dem teuren Hotel am Boulevard St. Germain. Latona hatte vermutet, sie würden dort nach wenigen Nächten ausziehen und sich - wie damals in Rom - eine günstigere Unterkunft suchen. Warum gab er so
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