Die Erben der Nacht - Pyras
gegangen. Ihr Körper verfällt bereits. Wir können nichts tun.«
Wie um sich selbst davon zu überzeugen, riss Luciano mit einer entschlossenen Bewegung den Deckel auf und ließ ihn zu Boden krachen, sodass alle zu ihm herumfuhren. Luciano schien es jedoch
nicht zu bemerken. Er sah nur in die glanzlosen Augen unter sich, die weit geöffnet zu ihm heraufstarrten, ohne noch etwas sehen zu können. Die Hände waren auf der Brust verkrampft, die Fingernägel wie im Schmerz ins eigene Fleisch gekrallt. Der Mund war zu einer Grimasse verzogen, dass die Zähne und Reste von schwärzlichem Zahnfleisch offen lagen. Luciano konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Nicht dass ihm diese Altehrwürdige etwas bedeutet hätte. Er wusste nicht einmal ihren Namen.
»Sie strahlt so ein tiefes Grauen aus«, formulierte Ivy seine Gedanken und legte den Arm um seine Schulter.
»Ich kann es auch fühlen. Mir ist bis tief ins Innerste kalt, und ich denke, ich müsste zittern«, sagte Luciano verwirrt.
Sie spürten die Bewegung auf der Treppe und hörten leise Stimmen. Kurz darauf kamen Seigneur Lucien, Sébastien und einige andere in die Höhle. Ivy und Luciano traten von den Särgen zurück.
»Gehen wir rauf in die Halle«, schlug Ivy vor. Die anderen nickten, Seymour gähnte.
Langsam, fast schleppend kehrten die vier jungen Vampire in die große Halle zurück und ließen sich auf ihre Sargdeckel fallen.
»Ich glaube nicht, dass der Unterricht heute stattfindet«, meinte Luciano nach einer Weile. »Das wird wieder eine langweilige Nacht!«
»Ach, du findest es langweilig, wenn Vampire einfach aufhören zu existieren und zerfallen, als habe eine rätselhafte Seuche sie dahingerafft?«, griff ihn Alisa in so aggressivem Ton an, dass Ivy dachte, sie würde sich gleich auf ihn stürzen.
»Seht dort drüben, Malcolm scheint sich auch nicht wohlzufühlen. Was, wie ich vermute, ganz andere Gründe hat«, sagte sie, um Alisa abzulenken, bereute es aber sofort. Malcolm schritt auf der anderen Seite der Höhle auf und ab und warf immer wieder sehnsüchtige Blicke in den dunklen Gang.
Das Gesicht der Vamalia wurde noch finsterer. »Sollte ich jetzt Mitleid mit seinem Liebesleid haben«, zischte sie.
»Wo sind eigentlich Hindrik und Matthias?«, fragte Ivy rasch.
»Hindrik? Ich habe ihn heute Abend noch gar nicht gesehen.« Alisa
blickte sich suchend um. »Seltsam. Er war nicht an meinem Sarg, als ich erwachte. Ich habe ihn aber auch nicht bei Tammo oder Sören gesehen. Oder nur nicht darauf geachtet?«
Tammo lief gerade mit Fernand vorbei. Die beiden schienen sich über irgendetwas zu amüsieren und kicherten in sich hinein.
»Tammo!«
»Was?« Ihr Bruder wandte sich mit ungnädiger Miene zu ihr um.
»Hast du Hindrik gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, heute noch nicht, und ich hoffe, das bleibt auch so. Er neigt dazu, einem jeden noch so harmlosen Spaß zu verderben, ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Ich denke eher, seine und deine Meinung darüber, was ein harmloser Spaß ist, klaffen weit auseinander«, berichtigte Alisa.
Tammo hob nur die Schultern. »Wir gehen jetzt jedenfalls zu den Katakomben hinüber, also halte Hindrik auf, wenn er gleich aufkreuzt, um uns hinterherzuschnüffeln.«
Doch Hindrik tauchte nicht auf. Ivy spürte, wie Alisa unruhig wurde.
»Meinst du, die Pyras haben ihn auf eine Mission geschickt? Aber warum hat er nicht Bescheid gesagt?«
Ivy schwieg. Die einzige Erklärung, die ihr einfiel, wollte sie Alisa nicht sagen. Sie dachte an die vergangene Nacht. An ihren Besuch in der Oper und an das für Hindrik so untypische Verhalten. Matthias war ein stoischer Typ, der nur selten unaufgefordert sprach, aber Hindrik? Eine solche Zurückhaltung war sie von ihm nicht gewohnt. Er war auch nicht der Vampir, der stundenlang beleidigt war und schmollte. Seltsam. Warum hatte sie über das veränderte Verhalten nicht früher nachgedacht? Hatte der Glanz der Opernaufführung sie so sehr geblendet?
Alisa schien ähnliche Gedanken zu hegen und zum gleichen beunruhigenden Schluss zu kommen. Die Vamalia sprang auf. »Ich werde nach ihm sehen!«
»Du willst zur Höhle der Unreinen hinuntergehen?«, fragte Luciano erstaunt.
»Ja, was dagegen?«
»Nein, du musst mich nicht gleich auffressen. Ich frage ja nur.« Er erhob sich, um sie zu begleiten.
»Leo, kommst du auch mit?«, erkundigte sich Ivy.
Der Dracas rekelte sich. »Ja, ich denke, ich werde euch begleiten. Matthias vernachlässigt in letzter
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