Die Erben der Nacht - Pyras
Höhle, ja nicht einmal mehr innerhalb des geschützten Bereichs. Sie wandte sich Luciano zu, der sich suchend umsah und dann die Schultern hob.
Da wurde Ivy bewusst, dass auch Franz Leopold fehlte. Eine A hnung stieg in ihr auf, wohin die beiden verschwunden sein konnten.
Eine Weile streifte Latona ziellos durch die Gebäude und warf einen Blick in Krankensäle, Behandlungszimmer und Kammern, die mit Büchern und Unterlagen vollgestopft waren. Die meisten Türen waren allerdings geschlossen. Latona getraute sich nicht, sie zu öffnen. Wenn sie jemandem auf dem Gang begegnete, senkte sie den Kopf, beschleunigte ihren Schritt und tat sehr beschäftigt. Niemand sprach sie an.
Was tat sie hier eigentlich? Was hoffte sie zu finden? Draußen wurde es dämmrig. Die Sonne strebte dem Horizont entgegen. Wollte sie so lange bleiben, bis ihr Onkel eintraf, und ihn dann zur Rede stellen, dass in der Nacht keine Behandlungen stattfanden? Nun, das hatte er ja auch nicht behauptet, sie selbst hatte sich so seine Besuche im Krankenhaus erklärt. Was also machte er hier, wenn er nicht als Patient kam?
Der Zufall führte Latona einige Treppen tiefer in einen Bereich, dessen zahlreiche Verbotsschilder sie magisch anzogen. Die erste Tür war nicht abgeschlossen. Latona schlüpfte in einen dämmrigen
Korridor. Sie lauschte. Es schien niemand hier zu sein. Zaghaft öffnete sie einige Türen und sah in Räume mit Becken und Wannen oder seltsamen Kästen. Sie waren mit dicken Schläuchen an eine Apparatur angeschlossen, die entfernt an einen Ofen erinnerte. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Konnten das die Räucherkammern sein, von denen die Schwester gesprochen hatte? Latona ging weiter. Wieder versperrte eine schwere Metalltür ihren Weg. Diese war allerdings verschlossen. Die Verbotsschilder wurden dringlicher. Lebensgefahr? Was konnte sich dahinter verbergen? Dreimal drückte sie die Klinke und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Vergeblich.
War da nicht ein Geräusch? Sie lauschte. Ja, von innen näherten sich Schritte. Gehetzt sah sich Latona um und huschte dann in den Raum mit den Kästen, der der Tür am nächsten war. Keinen Augenblick zu früh. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür knarrte in den Angeln und sie konnte zwei Männerstimmen hören. Latona lugte durch einen Spalt auf den schwach erhellten Gang hinaus und sah die beiden in Richtung der ersten Tür verschwinden. Sie hatten nicht wieder abgeschlossen! Latona ergriff die Gelegenheit und schlüpfte durch die Metalltür. Sie hörte, wie die Männer die vordere Gangtür abschlossen. Mit diesem Problem würde sie sich später beschäftigen. Nun wollte sie wissen, was es hier Verbotenes und Gefährliches gab. In einem Krankenhaus mitten in Paris? Mit den Schrecken, die in den nächtlichen Ruinen Roms hausten, konnte das hier sicher nicht mithalten! Hinter den ersten beiden Türen verbarg sich nichts Aufregendes. Das Einzige, was Latona zu beunruhigen begann, war der Geruch, der ihr in die Nase stieg. Was war das? Fremd und doch auch vertraut. Etwas Wildes, Ungezähmtes, unangenehm scharf und doch auch verlockend, ein wenig süßlich wie nach Verwesung. Eine andere Note mischte sich darunter. Warm, klebrig, metallisch. War das etwa Blut? Nun ja, in einem Krankenhaus nicht verwunderlich, sagte sie sich. Latona sah in einen kleinen, gefliesten Raum, in dem einige Glasflaschen mit einer dunkelroten Flüssigkeit auf einem Tisch standen. Der seltsame Geruch jedoch kam von weiter hinten. Latona zögerte. Ihre Füße wollten sich nicht
weiterbewegen. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und ihr Geist ihr Warnungen zuflüsterte.
Das war doch zu albern! Sie wollte jetzt wissen, was sich in diesem Raum verbarg. Latona sah sich in dem Gang um, der nur von einem Notlicht schwach erleuchtet wurde, das vermutlich Tag und Nacht brannte. Fenster gab es hier unten nicht, und so konnte sie auch nicht sagen, ob es draußen bereits dunkel wurde. Die kleine Lampe war fest mit der Wand verschraubt, doch in dem Raum mit den Räucherkästen fand sie eine Petroleumlampe. Sie entzündete den Docht und wartete, bis die Flamme wuchs und sich der warme Lichtschein tröstlich um sie ausbreitete. Erst dann öffnete sie die Tür, die das Geheimnis barg, auf dessen Suche sie war.
Woher Latona das wusste, noch ehe sie die Klinke berührte? Das konnte sie nicht sagen. Es war diese nicht fassbare Ahnung in ihr, dieser Instinkt, der sie manches Mal antrieb,
Weitere Kostenlose Bücher