Die Erben der Nacht - Pyras
dann wieder innehalten oder auch fliehen ließ. Zuerst hatte sie dieser unerklärlichen Stimme misstraut, doch mit den Jahren hatte sie gelernt, dass es für sie gesünder war, auf sie zu hören. Und nun riet die Stimme ihr zur Vorsicht, sagte ihr aber auch, dass sie an dieser Stelle nicht umkehren sollte, wollte sie die Wahrheit ergründen.
Natürlich wollte sie! Oder doch nicht? War Unwissenheit oft nicht auch Schutz und Segen, der ein ruhiges Gewissen bescherte?
Pah, dagegen hatte sie sich entschieden, als sie das Hotel auf eigene Faust verließ, um das Hôpital Cochin aufzusuchen!
Latona drückte die Klinke herunter und schob die Tür einen Spalt auf. Es war dunkel und totenstill dahinter, und doch fühlte sie ganz deutlich, dass jemand oder etwas in dem Raum war, von dem der raubtierartige Geruch ausging. Entschlossen schob sie die Tür weiter auf und hob die Lampe. Der Lichtschein wanderte durch den Raum, der an sich nicht viel für das Auge bot, nur kahle weiße Wände und einen Käfig aus stabilen Eisenstangen. Im Innern des Käfigs, der vielleicht drei auf drei Meter maß und ebenso hoch war, lag eine Gestalt zusammengekrümmt auf der Erde, das Gesicht in den Armen vergraben. Zaghaft trat Latona näher. Der Lichtschein fiel auf einen großen, kräftigen Mann. Das Haar war lang und verfilzt. Die Kleider einfach,
schmutzig und zerschlissen. Wäre sie ihm in den Straßen von Paris begegnet, hätte sie ihn für einen der armen Teufel ohne Obdach und Arbeit gehalten, die sich durch Betteln und Stehlen am Leben hielten und nachts in den alten Steinbrüchen oder in den noch aus der Zeit der Belagerung stammenden Ruinen der Vorstädte schliefen. Doch warum lief es ihr bei seinem Anblick kalt den Rücken herab? Latona trat noch ein wenig näher. Sie räusperte sich, doch der Mann reagierte nicht. Er rührte sich überhaupt nicht! Hatten sie deshalb die Ketten um Hand- und Fußgelenke gelöst? Sie ging in die Knie und starrte auf seinen Rücken und die Flanken. Nein, kein Atemzug hob und senkte diesen Körper. Also entweder war der Mensch hier tot, oder sie hatte es mit einem Wesen zu tun, das nicht atmen musste, um zu existieren.
Plötzlich zuckte der Körper, und ehe Latona Gelegenheit hatte zu reagieren, sprang der massige Mann auf die Füße. Geduckt wie ein in die Ecke gedrängtes Tier stand er da, die muskulösen Arme ausgestreckt, die Hände zu Klauen gekrümmt. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Sein Blick richtete sich auf Latona, die nun ebenfalls aufsprang und instinktiv bis zur Wand zurückwich. Er schob den Kopf nach vorn und schnüffelte vernehmlich. Latona machte sich darauf gefasst, dass er gegen das Gitter springen würde, stattdessen fielen seine Lider herab, er schwankte und fiel polternd zu Boden. Ein jämmerliches Fauchen erklang. Er zog die Oberlippe hoch und entblößte spitze Zähne und bläulich schwarzes Zahnfleisch. Speichel troff aus seinem Mund und tropfte zu Boden. Dann erschlaffte er. Vorsichtig trat Latona näher. Was war mit ihm? Die langen Reißzähne ließen keinen Zweifel, dass es sich um einen Vampir handelte, doch sein Zustand war - trotz des wilden Äußeren - eher erbärmlich zu nennen. Als Latona das Gitter erreichte, öffneten sich träge seine Lider, und er fixierte das Mädchen.
»Du gehörst nicht zu ihnen.« Seine Stimme war schwach und dennoch tief und wohlklingend. »Du dürftest nicht hier sein.«
Latona starrte ihn nur an. Wieder schien seine Kraft zu schwinden, und es dauerte eine Weile, bis er erneut die Augen öffnete. Er richtete sich ein wenig auf und hockte sich dann auf den Boden, den Rücken gegen das Gitter gelehnt.
»Warum bist du hier?«
Nach kurzem Zögern entschied Latona, sich auf das Gespräch mit ihm einzulassen. War sie nicht hier, weil sie Antworten wollte? »Aus Neugierde und weil ich die Wahrheit wissen will.«
Er ließ etwas hören, was ein Lachen oder Stöhnen hätte sein können. »Und was ist die Wahrheit?«
»Dass mein Onkel mich belogen hat!«, stieß Latona wild hervor.
Die Antwort schien ihn zu verwirren. Er schüttelte den Kopf, als müsse er einen aufsteigenden Schwindel vertreiben. »Ich verstehe nicht«, flüsterte er.
»Du bist doch ein Vampir, nicht wahr? Ich irre mich nicht, auch wenn ich nie einem Vampir wie dir begegnet bin.«
»Und ich bin noch keinem Menschen wie dir begegnet! Ja, ich bin ein Vampir«, fügte er noch hinzu. »Mein Name ist Thibaut de Pyras - Seigneur Thibaut, und wie heißt du?«
»Latona.« Sie
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