Die Erben der Nacht - Pyras
Unmoral ist oder der Ausdruck Pariser Lebensfreude. Offenbach ist nichts heilig. Er verspottet nicht nur die Götter- und Heroenwelt des antiken Griechenland. Er nimmt damit auch den französischen Hof und die feine Pariser Gesellschaft aufs Korn. Allerdings eher wohlwollend. Er ist nicht auf Umsturz aus, was ihm den Zorn der Opposition einträgt.«
Später, als Latona zwischen den Herren in den plüschigen Sesseln des Zuschauerraumes saß, schweiften ihre Gedanken wieder ab, und ihre Miene verdüsterte sich. Oscar zu ihrer Linken nahm davon keine Notiz. Er schien selbst in seine eigene Welt versunken zu sein. Immer wieder öffnete er die Lippen und sprach einige geflüsterte Worte. Dann legte er den Kopf schief, als lausche er ihrem Nachhall, und nickte mit einem seligen Lächeln.
»Frauen repräsentieren den Triumph der Materie über den Geist, so wie Männer den Triumph des Geistes über die Moral repräsentieren«, verstand Bram, als er sich ein wenig vorbeugte. »Ja, das ist gut, sehr gut. Das muss ich mir merken. Ich bin wirklich ein Genie!«
Bram lehnte sich schmunzelnd in seinen Sitz zurück. Nein, an mangelndem Selbstbewusstsein litt sein Freund wirklich nicht! Er selbst wandte sich wieder dem bunten Treiben auf der Bühne zu, bis der Vorhang nach dem ersten Akt fiel und der Beifall aufbrandete. Die Besucher erhoben sich und drängten hinaus ins Foyer, um eine Erfrischung zu ergattern. Latona blieb sitzen, mit einem ähnlich abwesenden Blick wie Oscar neben ihr, der wohl an einem neuen unvergleichlichen Aphorismus feilte.
»Möchte vielleicht jemand ein Glas Champagner oder lieber eine Limonade mit Rose, Himbeere und Zimt?« Bram richtete seinen Blick auf Latona. Vielleicht lichtete das ihre Stimmung etwas.
»Ja? Oh, der Vorhang ist gefallen. Ja, eine Limonade wäre wunderbar.« Sie sprang auf und hakte sich bei Bram unter, der ihr den Arm anbot.
»Ich weiß, dass es mehr Schick hat, Champagner zu trinken, aber mir schmeckt Limonade einfach besser«, gestand sie ihm im Flüsterton.
»Das kann ich gut verstehen«, gab Bram zurück.
»Meinen Sie nicht, es würde Sie erleichtern, wenn Sie Ihren Kummer mit mir teilten?«, fuhr er fort, als Oscar sich entfernte, die Getränke zu besorgen. »Sie denken an den jungen Vampir, Malcolm, nicht wahr? Er hat Sie nicht ernsthaft verletzt. Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
Latona stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie wissen, dass es nicht das ist, was mich belastet. Ach, ich frage mich, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse.«
»Eine schwierige Frage«, stimmte Bram zu und wartete mit aufmerksamem Blick.
Latona sprach zögernd weiter. »Ein Vampir ist doch böse, nicht?«
Bram wiegte den Kopf hin und her. »In den Augen der meisten Menschen und besonders der Kirche, ja.«
»Dann darf oder soll man ihn vernichten?«
»Die Kirche fordert es - soweit sie die Existenz dieser Wesen überhaupt zugibt«, meinte Bram vorsichtig.
»Darf man ihn auch quälen? Ihn gefangen nehmen und ihm Schmerz zufügen?«
Bram hob die Augenbrauen. Diese Frage überraschte ihn. Dachte sie etwa gar nicht an Malcolm?
»Ich weiß nicht, wie die Kirche dazu steht, aber meine persönliche Meinung lautet: Nein! Man darf kein Wesen unnötig leiden lassen. Wie kommen Sie auf den Gedanken?«
Latona antwortete nicht, stattdessen fügte sie hinzu: »Und wäre es dann böse oder eine Sünde, einer solchen gequälten Kreatur zu helfen?«
Bram sah sie alarmiert an. »Sie fragen das nicht nur hypothetisch, nicht wahr? Was haben Sie erfahren, das mir noch nicht bekannt ist?«
Er drängte vergebens. Oscar wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um mit drei vollen Gläsern zurückzukehren, und so war aus Latona nichts mehr herauszubekommen. Sie wandte sich Oscar mit einem übertriebenen Lächeln zu und begann, mit ihm zu scherzen. Bram war klar, dass sie hier und heute nicht mehr über das Thema sprechen würde. Dafür ließen ihn die Wesen der Nacht nun nicht mehr los, und während des zweiten Aktes war er derjenige, der der Bühne keine Aufmerksamkeit schenkte. Seine Gedanken wanderten zurück nach Irland, auf einen Friedhof und zu einer Vampirin, deren langes Haar silbern im Mondlicht schimmerte. Wann würden sie sich wiedersehen?
Die Sonne schickte sich an, über den Horizont zu steigen. Ivy lag in ihrem Sarg, die Hände vor der Brust verschränkt, und berührte den Geist der anderen Vampire, die einer nach dem anderen in ihre Todesstarre sanken. Ihr Gedankenfluss
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