Die Erben der Nacht - Pyras
am Pigalle und überall in den Tanzlokalen zu sehen ist. Was erwarten Sie? Natürlich brenne ich vor Neugier, endlich einmal selbst das anstößige Röckeschwingen und die langen Beine zu bewundern, die die Männer so in Ekstase versetzen.«
Oscar brach in helles Gelächter aus. »Ach, und ich dachte schon, ich müsste mich an dem heutigen Abend langweilen, weil ich - verzeihen Sie, Miss Latona - Kindermädchen spielen soll. Ich entschuldige mich zutiefst für diese Gedanken. Sie sind goldrichtig, meine Liebe, und ich bin ehrlich entzückt über diese so ungewohnt offenen Reden aus dem Mund einer Dame.«
Latona sah ihn ein wenig misstrauisch an, sagte dann aber geziert: »Mr Wilde, ich nehme das als Kompliment. Haben Sie das Stück schon einmal gesehen? Dann erzählen Sie mir die Geschichte von Orpheus in der Unterwelt. Ich gestehe, ich komme bei manchen Opern mit der Handlung nicht gut zurecht. Selbst wenn in einer Sprache gesungen wird, die ich verstehe.«
»Oh ja, ich war mit meinem Freund Bram bereits einige Male in Offenbachs Theater in der Passage Choiseul. Wir haben Die Herzogin von Gerolstein gesehen und Die schöne Helena und natürlich Pariser Leben. Kennen Sie Hortense Schneider? Nein? Sie ist ein prachtvolles Weib - verzeihen Sie, Miss Latona, das ist mir so herausgerutscht. Sie gibt in den meisten Aufführungen die Herzogin und das macht sie ganz wunderbar. Die Männer jedenfalls liegen ihr zu Füßen und stürmen jeden Abend aufs Neue das Theater.«
»Ich würde fast sagen, sie trägt maßgeblich zu Offenbachs anhaltendem Erfolg in Paris bei«, ergänzte Bram. »Doch wir wollten die Geschichte erzählen, die wir heute Abend auf der Bühne geboten bekommen. Orphée aux enfers, wie es hier genannt wird.«
Oscar ließ es sich nicht nehmen, es auf seine Weise vorzutragen. »Es beginnt im Theben des alten Griechenlands. Die Ehe von Orpheus
und Eurydike ist nicht mehr, wie sie sein sollte. Er betrügt sie mit der Nymphe Chloé. Nein, Sie müssen nicht so entrüstet dreinsehen und abfällig ›Männer‹ murmeln, denn Eurydike kümmert das nicht. Sie hat ihren Geliebten Aristäus. Sie hören, Miss Latona, ein durch und durch moralisches Stück!« Latona lachte hell auf und schien ihren trübseligen Gedanken zumindest im Moment entronnen zu sein.
»Was Eurydike nicht weiß, ist, dass ihr Liebhaber in Wahrheit Pluto, der Herr der Unterwelt, ist. Er will sie verführen, ihm in seinen Hort des Todes zu folgen. Nach einem Streit mit ihrem Gatten scheint der Augenblick gekommen.« Oscar senkte die Stimme und legte einen schaurigen Klang hinein. »Pluto gibt ihr den Kuss des Todes - er beißt sie in den Hals!«
Wie erstarrt blieb Latona stehen und riss erstaunt die Augen auf. »Pluto war ein Vampir? Hat er ihr das Blut ausgesaugt?«
Diese Frage verblüffte Oscar. »Vampir? Das habe ich noch nie gehört, aber wir können den Fall untersuchen. Glücklicherweise haben wir ja den Vampirexperten Bram Stoker an unserer Seite. Nicht wahr, guter Freund? Wie beurteilst du den Fall?«
Wie üblich nahm Bram die als Scherz gedachte Frage seines Freundes zum Anlass, ernsthaft über die Sache nachzudenken. »Vielleicht hat Offenbach wirklich an einen Vampir gedacht, als er seinen Gott der Unterwelt schuf. Ich weiß es nicht. So gut kenne ich ihn nicht.«
Latona entspannte sich wieder und sie nahmen ihren Gleichschritt durch die hell erleuchtete Avenue wieder auf. »Erzählen Sie weiter. Wie nimmt Orpheus die Entführung seiner Frau auf? Ist er entsetzt und fordert Plutos Blut?«
Oscar kicherte. »Aber nein, ganz im Gegenteil. Er ist entzückt, sein Weib auf so bequeme Weise losgeworden zu sein - gut, ich gebe zu, nun dürfen Sie entrüstet aufschreien. Es ist die Macht der öffentlichen Meinung, wie Offenbach es nennt, die ihn zwingt, zu Jupiter zu gehen und seine Frau zurückzufordern. Der hat gerade selbst Krach mit seinem eigenen Weib, die ihm seine Untreue mit schönen Menschenfrauen vorwirft. Jupiter ist über Plutos Vergehen ganz froh, lenkt es doch von seinen eigenen Vergehen ab. Er verspricht,
Orpheus zu helfen, seine Frau zurückzuholen, von deren Schönheit er gehört hat. - Allerdings will er sie nicht für ihren Mann befreien, sondern für sich selbst haben. Jedenfalls reist am Ende der ganze Olymp in die Hölle hinab, um sich Plutos Reich anzusehen.«
Latona schüttelte ein wenig ungläubig den Kopf. »Das wird ja immer schlimmer.«
Bram nickte. »Ja, die Pariser sind gespalten, ob das nun der Gipfel der
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