Die Erben der Nacht - Pyras
nach dem Arm seines Schützlings.
»Es mag ja sein, dass es für dich um diese Tageszeit zu anstrengend ist, dich in Nebel aufzulösen, und du mit deinen gestohlenen Schlüsseln besser bedient bist, mir bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten!«
Sie hörten Malcolm seufzen. »Kannst du mich nicht einfach gehen lassen? Ich bin alt genug, um auf mich aufzupassen!«
Vincent wiegte den Kopf hin und her. »Das bezweifle ich. Und die Antwort lautet: nein! Lord Milton hat mich nicht mit euch mitgeschickt, damit ich dich bei helllichtem Tag in Paris umherirren lasse - und das alles wegen eines Mädchens!«
»Woher weißt du von Latona?«
Vincent stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Es ist doch immer das Gleiche. Ist man in einem kindlichen Körper gefangen, wird auch der Geist unterschätzt.« Sanft fügte er hinzu. »Komm mit mir zurück. Zwing mich nicht, dir zu beweisen, dass in diesem kleinen Körper nicht nur große geistige Kräfte stecken. Du weißt selbst, dass es ein dummer Einfall war. Um diese Zeit gehören Vampire in ihre Särge.«
Mit hängendem Kopf ließ sich Malcolm zurückführen. Dieses Mal verzichtete auch er auf die Hilfe des Schlüssels. Die beiden Gestalten gingen auf das Gitter zu, verschwammen und wurden für einen Moment fast durchsichtig, ehe sie im Gang dahinter wieder feste Konturen annahmen. Ivy und Seymour zogen sich in einen Nebengang zurück und ließen die beiden passieren. Erst als die Vyrad die Halle erreicht hatten, machten auch sie sich auf den Rückweg.
Ich habe davon gehört, sagte Ivy, als sie sich wieder in ihren Sarg legte. Doch ich wusste nicht, dass sie diese Kunst so meisterlich beherrschen.
BÜCHER DER MEDIZIN
Latona saß alleine in ihrem Zimmer und drehte die Schwesternhaube in ihren Händen. Ihre Gedanken waren bei dem Vampir im Hôpital Cochin und schweiften von dort immer wieder zur Loge fünf in der Oper und zu Malcolm. Wann würden sie sich wiedersehen? Er wusste nun, in welchem Hotel sie wohnten. Er würde kommen! Und dann? Dann wären sie zusammen. Für immer.
Genauer wollte sie nicht darüber nachdenken. Latona richtete ihren Geist wieder auf den gefangenen Vampir. Sie konnte ihm nicht helfen. Sie musste hierbleiben und auf Malcolm warten. Sie schalt sich, dass sie am Vorabend Bram Stokers und Oscar Wildes Drängen nachgegeben und mit ihnen ins Offenbach-Theater gegangen war. Vielleicht hatte Malcolm in diesen Stunden versucht, sie zu finden, und sich schließlich wieder auf den Heimweg gemacht. Nein, sie durfte ihn nicht noch einmal enttäuschen.
Latona warf die Haube auf den Boden und griff nach ihrem Roman. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht auf die Hauptperson konzentrieren, die junge Wäscherin Gervaise, die von ihrem Liebhaber um ihr Geld gebracht und verlassen wurde und sich mit den beiden Söhnen alleine durchschlagen musste. Die Geschichte deprimierte sie heute und so schlug sie l’Assommoir wieder zu. Warum hatte Zola das Buch überhaupt »Der Totschläger« genannt? Bisher tauchte dieser Begriff lediglich als Name einer Spelunke auf. Nach diesem Titel hatte sich Latona eine andere Geschichte vorgestellt.
Ihr Geist wanderte wieder ins Cochin und seinem Gefangenen. Warum beschäftigte er ihre Gedanken so sehr? Der Vampir war weder schön noch anziehend oder verführerisch wie Malcolm, dem man mit einem Lächeln in die tiefste Hölle folgen würde. Nein, er war roh und unansehnlich, seine Züge wirkten grausam und
dennoch fühlte sie so etwas wie Mitleid. Oder war es ihr Sinn für Gerechtigkeit? Es war nicht richtig, was sie ihm antaten!
War es denn richtig gewesen, die Vampire in Rom zu vernichten?
Latona wusste es nicht. Thibaut wollte freigelassen oder vernichtet werden. Das war der Unterschied! Manches Mal gebot es die Lage, wilde Tiere oder andere Bestien zu töten. Doch es gab nichts, das rechtfertigte, irgendeine Kreatur leiden zu lassen.
Latona fasste einen Entschluss. Sie zog sich wieder ihr einfaches graues Kleid an, rollte Schürze und Haube zusammen, warf sich den Umhang über und ging über die Bedienstetenstiege hinunter in die Küche. Dort suchte sie den Küchenjungen auf, der ihr schon zweimal schöne Augen gemacht hatte. Sie zog ihn in eine Ecke, in der sie von den anderen nicht gehört und gesehen werden konnten, drückte dem erstaunten Jungen eine Münze in die Hand und unterbreitete ihm ihre Bitte.
»Du willst was? Aber wozu denn das?«
»Wenn ich gewollt hätte, dass du mir Fragen stellst,
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