Die Erben der Nacht - Pyras
dieser Verzweiflung zurückzulassen? Doch Franz Leopold umfasste ihr Handgelenk.
»Im Moment gibt es Wichtigeres. Wenn Luciano das nicht einsieht, dann ist das sein Problem. Willst du für Lucianos Launen riskieren, dass noch mehr Vampire für immer verlöschen? Die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Vielleicht ist einer unserer Servienten der Nächste? Sie waren heute Nacht zwar nicht mehr ganz so schwach, aber es ging ihnen alles andere als gut. Egal was dieses Gift ist, seine Wirkung verfliegt jedenfalls nicht sofort wieder, wenn man ihm nicht mehr ausgesetzt ist.«
»Nein, nicht so wie in der Hundegrotte«, bestätigte Alisa bedrückt und reichte ihm beide Hände. »Fangen wir an.«
Sie schlossen die Augen und konzentrierten sich aufeinander. Alisa versuchte, ihr Bewusstsein weit zu öffnen, damit der Dracas sich mit ihr verbinden konnte. Ein Schauder ließ sie erbeben, als sein Geist mühelos in den ihren fuhr. Es war so einfach und doch auch ein wenig unheimlich, wie vertraut es sich anfühlte. Die Barrieren, die ihn zu Anfang stets abgewehrt hatten, schienen verschwunden. Gemeinsam tasteten sie nach der Energie der Erde, die den Meridian
entlangströmte. Es konnte beginnen. In ihren Köpfen formten sie die Bilder der beiden Ratten, zu denen sie werden wollten. Nebelschwaden zogen sich zusammen und umwirbelten ihre Körper, die sich aufbäumten und reckten und dann vollständig aufzulösen schienen. Nein, sie zogen sich lediglich zusammen, bis nur zwei kleine, pelzige Nager auf dem feuchten Höhlenboden zurückblieben. Aufgeregt beschnüffelten sie sich gegenseitig.
Hör auf, mich mit deinen Schnurrhaaren zu kitzeln, und rück mir nicht so nah auf den Pelz!
Alisa fuhr ein Stück vor den länglichen gelben Zähnen der anderen Ratte zurück. Entschuldige. Ich wollte nur wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist.
Bestens, obwohl ich nicht wissen möchte, worin meine Pfoten gerade baden. Also lass uns loslaufen, damit ich diese ekelhafte Gestalt bald wieder abstreifen kann.
Alisa fand es nicht so schrecklich, eine Ratte zu sein. Eher interessant und ungewöhnlich, da die Wahrnehmung des Tieres so anders war. Dennoch konnte sie Franz Leopold nur zustimmen, wenn er zur Eile antrieb. Mit flinken Trippelschritten schlüpften die beiden Nager durch das Gitter und sausten den Gang entlang nach Norden auf das Versteck unter dem Opernhaus zu.
Als er sich dem Hotel näherte, verlangsamten sich seine Schritte, bis er an der Straßenecke stehen blieb, den Blick auf den hell erleuchteten Eingang gerichtet. Kutschen fuhren vor, spien ihre wohlhabenden Fahrgäste aus und rollten wieder davon. Leere Droschken kamen und hielten an. Diener in Livree öffneten den Wagenschlag, klappten Stufen herunter und halfen Damen und Herren beim Einsteigen. Auch zu Fuß kamen und gingen die Gäste. Die Damen stets begleitet von einem oder mehreren Herren. Nach Einbruch der Dunkelheit genügte es für eine Dame der Gesellschaft nicht mehr, ihre Zofe oder eine Gesellschafterin mitzunehmen. Die einzigen Frauen, die Bram Stoker alleine oder in kleinen Gruppen das Hotel durch einen der seitlichen Eingänge betreten und verlassen sah, gehörten
zu einer anderen Schicht. Für sie war das Hotel kein Ort der Zerstreuung oder Ausgangspunkt aufregender Abendgesellschaften. Für sie war es Schauplatz des täglichen Kampfes, genug zu verdienen, um sich und meist noch einige Kinder satt zu bekommen.
Was tat er hier eigentlich?
Er beobachtete beide Ausgänge und musterte jede Frau, die herauskam. Mit welchem Recht?
Ich bin nur um ihre Sicherheit besorgt, rechtfertigte er sich. Ihre Worte am vorherigen Abend hatten ihn alarmiert. Sie kämpfte um eine Entscheidung und offensichtlich ging es in diesem Fall nicht um den jungen Vampir Malcolm. Wer sonst hätte sie in einen solchen Konflikt stürzen können? Die Gerüchte über das angeblich gefangene Phantom mehrten sich wieder, nur dass es sich bei der Kreatur hinter Gittern nicht um den Schrecken der Oper handeln konnte. Wie aber war es Latona gelungen, das Wesen aufzuspüren? Die Antwort lag auf der Hand: indem sie ihrem Onkel, dem Vampirjäger, gefolgt war. Bram befürchtete, dass ihr Gewissen sie in eine gefährliche Situation treiben konnte.
Deshalb war er hier und beobachtete wie ein Strauchdieb heimlich die Ein- und Ausgänge ihres Hotels.
»Monsieur? Kann ich Ihnen helfen?« Einer der Männer in Livree hatte sich ihm genähert und sprach ihn an.
»Nein, danke«, wehrte Bram Stoker ab.
»Ich
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