Die Erben der Nacht - Pyras
Worte mit Marieke, dann scharte er die Erben um sich. »Wir werden die Särge im Eisenbahnwaggon lassen. Ich nehme an, die Seigneurs finden einen Weg, sie zu einem geeigneten Zugang zu den Labyrinthen transportieren zu lassen. Vielleicht über einen der Friedhöfe. Da sollten sie ja nicht zu sehr auffallen. Wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Wir werden die Abwasserkanäle bis zur Seine nutzen. Dann sollen uns Fernand und Joanne über eine Brücke führen. Auf der anderen Seite wollen wir unseren Weg wieder unterirdisch fortsetzen, bis wir die Höhlen erreichen, in denen wir die Seigneurs vermutlich in den frühen Morgenstunden antreffen. Alles Weitere werden wir zuerst mit ihnen besprechen. Und nun los. Seid leise, bleibt dicht zusammen und folgt Fernand und Joanne.«
Bevor sie aufbrachen, trat Joanne noch einmal an den Bretterstapel und rief die Ratten zu sich. Sie hob eine an ihren Mund und pfiff ihr verschiedene rasche Tonfolgen ins Ohr. Die Ratte saß aufrecht auf den Hinterbeinen und sah die Vampirin aus klugen Augen an. Sie stieß als Antwort nur einen kurzen Pfiff aus, doch Joanne schien damit zufrieden zu sein. Sie setzte das Tier auf den Boden und schon war es mit den anderen in einer Lücke im Untergrund verschwunden.
Joanne führte die Erben und ihre Servienten ein Stück den Schienenstrang entlang bis zu einem Gitter, das mit einem Schloss gesichert war. Noch ehe sie sich Gedanken darüber machen konnten, wie sie das Hindernis überwinden sollten, zog die Vampirin ein Lederband unter ihrem schmuddeligen Kittel hervor, an dem mehrere Schlüssel und einige seltsam geformte Häkchen hingen, die Alisa an ihre Sammlung von Einbruchswerkzeug erinnerten. Schon sprang das Schloss auf und Joanne schob das verrostete Gitter beiseite. In der Tiefe hörten sie Wasser rauschen. Der Geruch von Abwässern hüllte sie ein. Joanne machte eine einladende Handbewegung.
»Willkommen in der Unterwelt von Paris.«
DURCH DIE ABWASSERKANÄLE
Die Nacht brach an in Paris. Die Sonne verabschiedete sich, um der neuen Welt ihr Licht zu bringen, während es im alten Europa dunkel wurde. In den französischen Dörfern und kleinen Städten erlosch mit dem Licht auch das emsige Leben der Menschen. Sie legten ihre Arbeit nieder, setzten sich an den Abendbrottisch und genossen die wenigen Augenblicke der Ruhe, bevor sie sich niederlegten, um für den nächsten Tag neue Kräfte zu sammeln. In Paris dagegen vollzog sich ein seltsamer Wechsel. Zwar schlossen auch hier die Fabriken und Handwerksbetriebe und müde Arbeiter und Arbeiterinnen wankten ihrem Heim zu, doch andere Stadtviertel schienen mit dem Schwinden des Lichts erst richtig aufzuleben. Überall quollen Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen auf die Straße. Statt Marktkarren verstopften nun Mietdroschken und Equipagen die Straßen, um die vornehme Gesellschaft zu den Kaffeehäusern und Restaurants zu fahren, den zahlreichen Theaterhäusern der Stadt, der neuen Oper oder zu einem anderen der prunkvollen Stadtpalais, die sich entlang der Avenuen und Boulevards reihten.
Die nicht so begüterten Pariser machten sich zu Fuß auf den Weg in die Nacht. Auch sie dürstete es nach Unterhaltung, ob im Volkstheater oder einem der Varietés am Fuß des Montmartre, bei einem Bummel zwischen den Schaustellerbuden, die in den Randbezirken wie Pilze aus dem Boden schossen und dann plötzlich wieder verschwanden, oder in den Weinlokalen, die sich außerhalb der Zollschranke entlang der Ausfallstraßen wie Perlen an einer Schnur reihten. In den Vierteln um das Quartier Latin zogen die Studenten in Gruppen durch die Gassen, in weinseliger Laune mit ihren Grisetten in den Armen, ihren Geliebten unter den Näherinnen und Waschweibern.
Draußen in der Provinz war die Nacht ruhig und dunkel. Wenn die
Sonne dagegen über Paris erlosch, flammten überall Gaslaternen auf, um die Sterne am Himmel zu überstrahlen und den Nachtschwärmer vom launischen Mond unabhängig zu machen. Die meisten Menschen im oberirdischen Paris wiegten sich in trügerischer Sicherheit und gaben sich leichtfertig den Freuden der Nacht hin. Natürlich musste man sich vor dem Gesindel in Acht nehmen, das in düsteren Ecken lauerte, um unbescholtene Bürger um ihre Geldbörse zu erleichtern. Dass es darüber hinaus noch andere Jäger der Nacht gab, wollten sie gar nicht wissen. Und so waren die Pariser jeder Gesellschaftsschicht für die Vampire eine leichte Beute. Trotz der zahlreichen Gaslaternen und dem hell strahlenden
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