Die Erben der Nacht - Pyras
Lichtmast vor der Oper blieben genug Winkel und Gassen im Finsteren. Das Revier der Vampire war riesig und bot jede Menge Abwechslung. Die meisten der Pyras zogen es vor, alleine durch die Labyrinthe der Gassen unter und über der Erde zu streifen, bis sich ein geeignetes Opfer fand, das den Kitzel der Jagd entfachte.
Der große, vierschrötige Pyras beschloss, sein Glück heute rechts der Seine zwischen den Alleen zu versuchen, bei den von Gärten und Mauern umgebenen Villen entlang der Boulevards mit ihren teuren Geschäften voller exotischer Dinge, die niemand brauchte, aber alle begehrten. Die Erscheinung des Vampirs war nicht dazu angetan, sich unauffällig zwischen den reichen Parisern zu bewegen. Seine Gesichtszüge waren grob. Die Haut war zwar wie bei den Vornehmen von durchscheinender Blässe, doch der Schmutz und die Bartstoppeln ließen keinen Zweifel aufkommen, dass er nicht zu ihnen gehörte. Auch seine Kleidung ließ ihn eher wie ein Arbeiter von den Quais erscheinen. Selbst für einen Droschkenkutscher, der zum Bild der exklusiven Stadtviertel gehörte, war seine Kleidung zu abgerissen und verschmutzt. Doch das kümmerte ihn nicht. Er wusste mit den Schatten zu verschmelzen. Von einem menschlichen Auge entdeckt zu werden, musste er nicht fürchten.
So verließ er die Unterwelt an einem Kanalschacht am Jardin du Luxembourg und schritt gut gelaunt durch St. Germain, überquerte die Pont Royal und querte die Gärten der Tuilerien, deren späte Blütenpracht in seltsamem Kontrast zu den geschwärzten
Mauerresten des ausgebrannten Königspalasts stand. Lange hatten die Väter der neuen Republik darüber gestritten, ob man ihn wieder aufbauen oder die Ruine abreißen sollte. Wie dem Vampir zu Ohren gekommen war, hatte man sich nun anscheinend geeinigt, diese unliebsame Erinnerung an die Herrschaft der Bourbonen und die beiden Kaiserreiche endgültig aus dem Pariser Stadtbild zu tilgen. Es genügte schließlich, wenn man den alten Louvrepalast erhielt, der schon lange als Museum diente.
Das alles interessierte den Vampir nicht. Die Politik und Kriege der Menschen waren ihm einerlei. Ob Königreich oder Republik, Kommune oder Kaiserreich, was kümmerte es ihn, wer sie in welcher Staatsform regierte? Für ihn dienten die Menschen nur dem einen Zweck: ihn zu nähren und seine Lust zu befriedigen.
Jeden Schatten nutzend, erreichte der Vampir die Avenue de l’Opéra, die der Stadtplaner Napoleons III. vom Palais Royal bis zum neuen Opernhaus wie eine Schneise durch das alte Stadtviertel hatte schlagen lassen. Auf Bäume zu beiden Seiten hatten sie verzichtet. Nichts sollte den weiten Blick zwischen den beiden Gebäuden stören.
Der Vampir verließ eine der engen, alten Gassen und blinzelte ein wenig verstört. Das neue Licht, das die Menschen durch Strom erzeugten und über einen mastartigen Turm auf dem Platz verbreiteten, stach ihm in den Augen. Er zog sich wieder in die Gasse zurück und beschloss, ein Stück des Weges unterirdisch zurückzulegen. Er stieg zu einem Keller hinunter, öffnete eine Tür, schob ein Regal beiseite und betrat eine weitere Treppe, die in die Tiefe der Kanäle führte. Der Pyras musste nicht überlegen noch störte ihn die absolute Finsternis. Ein paar Ratten wuselten um seine Füße, die er mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen die Haufen aus Unrat und Morast setzte. Bald kam er an eine schmale Stiege, die ihn in ein Labyrinth mit Gewölben, schmalen Gängen und kerkerartigen Verliesen brachte.
Plötzlich hielt der Vampir inne, als sei er zu Stein erstarrt. Er witterte einen Menschen in der Nähe, ohne jedoch dessen Fußtritte zu hören. Und dabei bewegte er sich eindeutig auf ihn zu. Für einen Augenblick war der Vampir verwirrt, dann erkannte er
den Geruch: menschlich, ja, eindeutig, doch vermischt mit etwas Wildem, Ungezähmtem und zusätzlich einem Hauch von Moder und seltsamen alchemistischen Dämpfen. Diesen Geruch kannte er. Das war keine Beute, die ihm entgegenkam. Nun konnte er auch den Schein der Blendlaterne über die Wände huschen sehen. Er lief sehr schnell.
Der Vampir verspürte kein Bedürfnis, ihm zu begegnen. Man tolerierte sich gegenseitig, legte jedoch keinen Wert auf zu große Nähe. So verbarg er sich in einer Nische und wartete, bis der Mensch sich entfernt hatte, ehe er seinen Weg fortsetzte. Bald jedoch roch er schon wieder Sterbliche. Dieses Mal war auch das Gepolter ihrer Schritte nicht zu überhören. Es waren mehrere, die sich - zumindest
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