Die Erben der Nacht - Pyras
Depeschen. Oder besser, steigt gleich an der Rue de la Tombe-Issoire die verborgene Wendeltreppe dreißig Meter in die Tiefe, bis ihr auf die alten Steinbrüche stoßt. Dort zwischen Millionen aufgestapelter Schädel und Knochen sucht euren Weg bis in die Kavernen unter dem Val de Grâce. Dort werdet ihr sicher jemanden finden, der euer Telegramm entgegennimmt. Und vielleicht könnt ihr euch den Rückweg sparen und gleich zum Essen bleiben?« Fernand zeigte seine spitzen Eckzähne.
»Genug!«, rief Hindrik. »Ich habe verstanden. Dann müssen wir uns eben ohne ihre Führung zum Unterschlupf eures Clans begeben. Also, wie kommen wir dorthin? Ihr müsst den Weg doch kennen!«
Joanne verbeugte sich spöttisch. »Aber ja. Wir kennen uns vorzüglich in Paris aus. Über der Erde und auch in den zahlreichen Stockwerken darunter. Welchen Weg sollen wir nehmen? Haben Euer Gnaden besondere Wünsche?«
»Er soll nur schnell und sicher sein«, murmelte Hindrik.
»Wo sind wir überhaupt«, mischte sich Alisa ein. »Habe ich den Ruf des Schaffners vorhin richtig verstanden? Gare du Nord ?«
Joanne nickte. »Ja, wir sind am Nordbahnhof angekommen. Paris hat ein halbes Dutzend Bahnhöfe, in denen Züge aus allen Himmelsrichtungen ankommen. Sie sind allerdings nicht miteinander verbunden. Noch nicht.«
»Im Norden von Paris sind wir also«, wiederholte Alisa. »Und wo lebt euer Clan?«
»Einige von uns haben sich in der Nähe der Katakomben eingerichtet, ein Teil bevorzugt die Kalksteinhöhlen unter dem Val de Grâce, andere sind in der Nähe des Jardin du Luxembourg oder in den Gipshöhlen des Montmartre.«
»Die Grüfte unter dem Cimetière Montparnasse sind auch beliebt«, warf Fernand ein. »Dort gibt es noch zahlreiche verborgene Abkürzungen und Querungen, die die Schmuggler einst unter der Zollmauer hindurchgruben.«
Alisa stöhnte. »Das scheint kompliziert zu werden. Sind all diese Orte über ganz Paris verstreut?«
Joanne schüttelte den Kopf. »Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Zwar lebt unser Clan nicht in einer Höhle zusammen, doch die meisten sind im Südosten der Stadt anzutreffen. Im fünften, dreizehnten und vierzehnten Arrondissement, zwischen dem Quartier Latin im Norden bis Montparnasse im Süden und der Salpêtrière im Osten. Eben dort, wo seit dem Mittelalter der Kalkstein in mehreren Stockwerken unter der Erde gebrochen wurde, um die Häuser, Stadtpaläste, Klöster und Kirchen zu bauen. Die Menschen haben bequeme,
weiträumige Kavernen zurückgelassen. Hier in der Gegend gibt es nur enge Abwasserschächte und Kanäle, die uns weniger zusagen und nicht so gut für unsere Särge geeignet sind.«
Alisa schüttelte ein wenig fassungslos den Kopf.
»Gut, und wo fangen wir an zu suchen? Wo werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach eure Seigneurs antreffen? Wo stehen ihre Särge?«, hakte Hindrik nach und warf Marieke einen Blick zu. Die verdrehte gequält die Augen.
»Ihre Särge? Die der Seigneurs und ihrer Vertrauten, aber auch der meisten Altehrwürdigen befinden sich in den von magischen Barrieren geschützten Kavernen unter der alten Abtei Val de Grâce«, gab Fernand bereitwillig Auskunft.
»Gut, dann werden wir jetzt dorthin gehen. Ihr führt uns auf dem kürzesten und sichersten Weg, auf dem wir möglichst wenigen Menschen begegnen«, wies Hindrik die beiden Pyras an.
Joanne und Fernand sahen sich an. »Hm, unterirdisch?«
»Ja!«
»Dann bleiben uns auf dieser Seite der Seine nur die Abwasserkanäle«, sagte Joanne.
Fernand wiegte den Kopf hin und her. »In den Kanälen müssen wir aber durchs Wasser, und unter der Seine durch gibt es nur den Siphon, der bis zur Decke gefüllt ist.«
Die Erben hatten sich um die beiden Pyras geschart und dem Austausch schweigend gelauscht. Nun stieß Anna Christina einen Schrei aus. »Wenn ihr meint, ich tauche durch einen Abwasserkanal, dann habt ihr den Verstand verloren! Ich ruiniere mir doch nicht die Kleider in einer Kloake. Ich habe keinen Bedarf, meinen Kopf in eine Latrinengrube zu stecken!« Auch ein paar andere murrten.
Alisa und der kindliche Vincent aus London stöhnten einmütig: »Meine Bücher! Das können sie nicht machen! Sie würden die Bücher zerstören.«
»Es wird mit den Särgen schwierig. Manche der Kanäle sind recht eng«, sagte Joanne, ohne auf die Einwände einzugehen.
»Sie über die Brücke zu tragen, könnte einer Patrouille auffallen«, entgegnete Fernand und sah Hindrik an.
Der Servient wechselte ein paar leise
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