Die Erben der Nacht - Pyras
einmal auseinander.
»Sie halten das nun vielleicht für ein Gruselmärchen«, begann der Direktor vorsichtig, »doch ich versichere Ihnen, sie verändern sich. Als ich ihn das erste Mal sah und er hier tobte wie ein Wilder, konnte ich deutlich lange, spitze Reißzähne ausmachen!«
Carmelo nickte nur. »Wurde er bei seiner Gefangennahme verletzt? Ich sehe hier in seinen Kleidern und Haaren getrocknetes Blut. Ist es sein eigenes oder das seiner Häscher?«
»Sowohl als auch«, gab der Direktor zu. »Ich war nicht dabei, als sie ihn in einem unterirdischen Gang nahe der Oper überwältigten, doch ich weiß, dass er sich trotz des Netzes heftig gewehrt hat. Er soll auch zwei der Gendarmen gebissen haben. Er selbst kam mit mehreren Schnitt- und Schürfwunden hier an.«
»Ich sehe keine«, sagte Carmelo.
Der Direktor nickte eifrig. »Das ist noch so ein seltsames Phänomen. Die beiden tiefsten Wunden an seinen Armen sind noch zu sehen, wenn Sie den rechten Ärmel ein wenig hochschieben, da neben dem langen Riss im Stoff. Aber all die anderen Verletzungen waren nach einem Tag verschwunden, den er in einer Art Ohnmacht verbrachte.«
Carmelo nickte bedächtig. Er war sich seiner Sache inzwischen sicher. Er hatte einen Vampir vor sich, dennoch fragte er weiter.
»Ohnmacht?«
»Ja«, rief der Direktor. »Als die Männer ihn in der Nacht hierherbrachten, wehrte er sich mit allen Kräften, und es gelang uns nicht mehr, ihn zu überwältigen, nachdem wir ihn in diesen Käfig gebracht und er sich von dem Netz befreit hatte. Nichts konnte ihn beruhigen. Und dann plötzlich sackte er in sich zusammen, fiel zu Boden, schloss die Augen und regte sich nicht mehr bis zum Abend. Wir nutzten die Zeit, ihn zu binden, um ungefährdet den Käfig betreten und einige Experimente mit ihm machen zu können, um endlich zu erfahren, womit wir es zu tun haben. Und herauszufinden, wie wir uns gegen so eine Kreatur zur Wehr setzen können, sollte es - wovor Gott uns bewahren möge - noch mehr von ihnen geben.«
»Ein vernünftiger Gedanke. Ich habe die Erfahrung gemacht, wo es einen gibt, gibt es einen ganzen Clan von ihnen.«
»Ich hoffe doch nicht«, sagte der Direktor, eine Spur blasser um die Nase. »Wir wissen immer noch nicht, was er ist. Wie sollen wir diese Spezies bekämpfen?«
»In diesem Punkt kann ich Ihnen weiterhelfen.« Carmelo nahm einen Lappen und ein kleines Messer vom Tisch mit den Untersuchungsgeräten. Er schnitt sich damit in den Finger und ließ einige Tropfen auf das Tuch fallen. Dann steckte er es vorn auf die Spitze der Stange. »Passen Sie gut auf, Herr Direktor!«
Er steckte die Stange durch das Gitter und war noch nicht in Reichweite des Gefesselten gekommen, als dessen leblose Glieder plötzlich erwachten. Er wäre aufgesprungen, hätten die Ketten es nicht verhindert. Wild zerrte er an seinen Fesseln und riss den Mund zu einem Schrei auf, der dem Heulen eines Wolfes glich.
»Sehen Sie das?«, rief Carmelo und deutete auf die beiden Eckzähne, die nun lang und spitz bis über die Unterlippe ragten und noch immer zu wachsen schienen.
»Unglaublich!«, hauchte der Direktor und ließ sich auf einen der Stühle sinken.
»Nun haben Sie auch die Antwort auf die Frage, wovon er sich ernährt und warum er Ihr Essen verschmäht hat. Er ist ein Vampir, der nach menschlichem Blut lechzt!«
»Gott bewahre!«, rief der Direktor. »Ich dachte, diese Geschöpfe gehörten in Sagen und Geschichten, mit denen man Kinder erschreckt.«
»Ich versichere Ihnen, so ist es nicht. Sie existieren mitten unter uns, oft lange unerkannt, denn sie sind Meister der Täuschung und des Tarnens, die sich in nächtliche Schatten auflösen können und so ihre ahnungslosen Opfer überraschen. Sie trinken Blut, sie töten und sie machen unschuldige Menschen zu ihresgleichen!« Anklagend deutete er auf den Gefesselten hinter den Gittern, wieder ganz der große Vampirjäger. Direktor Baillon schwieg entsetzt.
»Glauben Sie wirklich noch immer, Sie hätten das Phantom der Oper gefangen?«
Baillon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich habe Beschreibungen über ihn gehört und das da passt nicht im Geringsten. Er soll ein hochgewachsener, magerer Mann sein, stets im schwarzem Frack und mit einer Maske vor dem Gesicht, um seine grässliche Fratze, die einem Totenschädel gleicht, zu verbergen.«
Carmelo nickte zustimmend. »Ja, so habe ich es auch gehört, und ich sage Ihnen: Vielleicht haben die Männer das Phantom in den Gängen
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