Die Erben der Nacht - Pyras
»Ah, Wilde, setzen Sie sich zu uns. Wir überlegen gerade, ob wir noch ins Reine Blanche rübergehen.«
»Es soll ein paar neue Tänzerinnen geben, deren Beine durchaus sehenswert sind«, sagte der Mann, den Oscar zum ersten Mal sah.
»Studien, rein berufliche Studien«, beeilte sich Lautrec mit einem Augenzwinkern zu versichern. »Ich kann nicht immer Pferde und Jagdhunde malen. Die Zeiten sind vorbei.«
»Nun widmet sich unser junger Freund lieber der Studie des weiblichen Körpers«, sagte Bram trocken.
»Aber ja! Ich will mich Degas’ Schule anschließen. Ist er nicht unser aller Vorbild?«
»Wenn es darum geht, die Formen der Ballettratten zu studieren?«, fragte Oscar vergnügt.
»Dann wollen Sie das Tanzlokal mit uns besuchen?«, hakte Lautrec nach. »Es ist berühmt.«
Oscar überlegte nicht lange. »Warum nicht?« Er setzte sich zu den Männern, bestellte Absinth und wandte sich an Bram. »Aber deshalb habe ich dich nicht gesucht. Ich saß gerade mit einem faszinierenden Zoologen beisammen. Alfred Girard ist sein Name und er ist zurzeit mit ganz besonderen Forschungen befasst.« Er machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Ja, und?«, fragte Bram, der sich nicht vorstellen konnte, was daran sein Interesse wecken sollte.
»Er wirkte ein wenig ausgelaugt und trug Kratzspuren an der Wange, sodass ich mich nicht zurückhalten konnte und ihn fragte, ob er bei seinen Studien einem der Löwen zu nahe gekommen sei. Darauf stöhnte er und meinte, wenn es nur das gewesen wäre! Und nun gib acht, mein Freund. Er hat die vergangene Nacht damit verbracht, ein Monster im Untergrund von Paris zu jagen.«
Nun hatte er Brams ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ein Monster? Was für ein Monster?«
Oskar schmunzelte und dehnte die Auflösung hinaus. Es reizte ihn, den Freund ein wenig zappeln zu lassen.
»Nun rede schon!«
»Ja, ein Monster, so sagte er, als er mir die Erscheinung beschrieb, doch zuvor belegte er das Ziel ihrer groß angelegten Jagd mit einem anderen Namen: das Phantom der Oper!«
Bram sprang auf. »Sie haben es doch nicht etwa getötet?«
Oscar schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund, Beschützer aller fantastischen Wesen. Sie haben es lebendig eingefangen.«
»Wo ist es jetzt?«, drängte Bram begierig.
Oscar legte den Kopf schräg. »Das kann ich dir nicht sagen. Leider überfiel den guten Zoologen in diesem Moment ein unerwarteter Anflug von Nüchternheit, und er meinte, er dürfe nicht darüber sprechen. Ich solle vergessen, was er gesagt habe. Nicht einmal meine berühmte Wortgewandtheit konnte ihm auch nur einen Hinweis entlocken. Doch du musst nicht so enttäuscht dreinschauen. Ich habe auf dem Weg hierher nachgedacht und da ist mir ein Name eingefallen. Der Gute sprach vom Jardin des Plantes. Wie wäre es, wenn wir dem Herrn Direktor Henri Ernest Baillon morgen einen Besuch abstatten? Vielleicht weiß er mehr über den Vorfall.«
Bram Stoker trank sein Glas leer und erhob sich. »Eine vortreffliche Idee.«
»Ja, und nun lass uns nach den Tänzerinnen sehen.«
EIN MONSTER HINTER GITTERN
»Monsieur, was wollen Sie hier? Sie haben hier keinen Zutritt, also bitte begeben Sie sich wieder in den für die Öffentlichkeit freigegebenen Teil unserer Menagerie. Haben Sie die Schilder nicht gesehen? Außerdem schließen wir gleich. Es ist bereits dunkel.«
»Doch, ich habe die Schilder sehr wohl gesehen. Sie haben sie ja überall aufhängen lassen. Man stolpert geradezu über sie«, antwortete der so Gerügte freundlich.
Henri Ernest Baillon sah den Fremden irritiert an. Wollte er ihn verspotten? Er sprach in fließendem Französisch, jedoch eindeutig mit Akzent. Diese Ausländer! Der Direktor des Jardin des Plantes seufzte.
»Werter Herr, ich glaube, ich habe mich nicht klar ausgedrückt.«
Der Fremde, der groß und kräftig gebaut war, das schwarze Haar an den Schläfen von Grau durchzogen, unterbrach ihn, verbeugte sich und streckte ihm die Hand entgegen, die Baillon verwirrt ergriff. »Sie haben sich durchaus verständlich gemacht, Monsieur le Directeur, und auch Ihre Schilder sollten ihren Zweck erfüllen, nur, ich bin aus einem bestimmten Grund hier und habe Sie gesucht, um Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten. Doch zuvor möchte ich mich vorstellen. Mein Name ist Carmelo Riccardo, und ich vermute, dass meine Erfahrungen und Kenntnisse Ihnen sehr nützlich sein werden.«
Baillon zog die Hand zurück. »Sind Sie Zoologe? Suchen Sie Arbeit? Es tut mir leid, doch wir können momentan
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